Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

stand gemacht. Wir stehen nicht am Ende, 
nicht am Anfang einer Entwicklung, sondern 
wir stehen in der Tradition der Debatte, die 
seit der Industrialisierung (mit all ihren 
Implikationen) Probleme wie den Stadt- 
Land-Gegensatz, modernes Nomadentum 
(notwendige Mobilität der Arbeitskräfte) und 
(im Bauen) Standardisierung, Typisierung, 
Normierung behandelt und somit auch 
ausgelöst hat die Debatte um das, worum es 
uns hier geht (einschließlich des ideologisch 
besetzten Gegenstücks zu „Regionalismus“, 
dem „Internationalismus“, gegen den ja auch 
polemisiert wird, will man heutzutage „mo- 
dern“ sein). 
Dies kann gelesen werden als ein Plädoyer 
für die wieder aufzunehmende (und wieder- 
holte) Lektüre der Schriften von Adolf Loos 
und von Hannes Meyer, ein Plädoyer für das 
Stöbern und Wiedereintauchen in 50 bis 80 
Jahre alte Gedanken. Beide zeigen, daß die 
Probleme des Bauens, der Heimatkunst, des 
Regionalismus nicht nur als auf einer Ebene 
gelagert diskutiert werden müssen, sondern 
diese auch sozusagen einen vertikalen Zusam- 
menhang miteinander haben; diese Beziehun- 
gen wiederum mit Fortschreiten der gesamt- 
gesellschaftlichen, geistigen und materiellen 
Produktion komplexer und komplizierter 
werden, was zwar ihre Aufknüpfung er- 
schwert, aber nicht unmöglich macht. 
Hannes Meyers Ausführungen zum in- 
dustrialisierten Wohnungsbau, zur „Neuen 
Welt“, zum eigenen frühen Projekt des 
„Freidorfs“ bei Basel, einem genossenschaft- 
lichen Siedlungskomplex (1919-1924), bei 
dem „äußerlich versucht ist, jurassische 
Bauweise zu typisieren ...“, Adolf Loos’ 
Schriften und Aufsätze, z.B. die „Regeln für 
den, der in den Bergen baut“ (1913) und 
„Heimatkunst“ (1914) und sein uneinge- 
schränktes Eintreten für eine „Moderne“ 
einerseits und sein Wettern gegen jeden 
Versuch der Rückschrittlerei und Bauern- 
tümelei andererseits, können die gegenwärti- 
ge Debatte bestimmt beleben. Nehmen wir 
doch mal die Tatsache, daß die wichtigen 
Schriften dieser beiden frühen und aufrich- 
tigen modernen Menschen zu einem Zeit- 
punkt großer Orientierungslosigkeit und sich 
vordrängelnder neuer „ismen“ wieder zu- 
gänglich gemacht wurden, einmal ernst und 
als Wink und lassen uns auf sie ein; oder: 
„Wir arbeiten so gut als wir können, ohne 
auch nur eine sekunde über die form nachzu- 
denken. Die beste form ist immer schon bereit 
und niemand fürchte sich, sie anzuwenden, 
wenn sie auch in ihrem grunde von einem 
anderen herrührt. Genug der originalgenies! 
Wiederholen wir uns unaufhörlich selbst! Ein 
haus gleiche dem anderen! Man kommt dann 
zwar nicht in die „deutsche kunst und 
dekoration“ und wird nicht kunstgewerbe- 
schul-professor, aber man hat seiner zeit, sich, 
seinem volke und der menschheit am besten 
gedient. Und damit seiner heimat!“ 
A. Loos 
Heimatkunst, 1914 
Loos, Adolf 
Ins Leere gesprochen 1897-1900 
Paris/ Zürich 1921 
Neuauflage: Wien 1981 
Loos, Adolf 
Trotzdem 1900-1930 
Innsbruck 1931 
Neuauflage: Wien 1982 
Loos, Adolf 
Die potemkinsche Stadt 
Verschollene Schriften 1897-1933 
Wien 1983 
Meyer, Hannes 
Bauen und Gesellschaft 
Schriften, Briefe, Projekte 
Dresden 1980 
A 
Achte auf die formen, in denen der bauer baut. Denn sie sind der 
urväterweisheit geronnene substanz. Aber such den grund der form auf. Haben 
die fortschritte der technik es möglich gemacht, die form zu verbessern, so ist 
immer die verbesserung zu verwenden. Der dreschflegel wird von der 
dreschmaschine abgelöst. 
A. Loos 1913 
Die ausschließliche Verwendung am Orte (wie groß ist diese „Region“ 
eigentlich heute, bei Elektrifizierung, Eisenbahn und Flugzeug?) vorhandener 
Baustoffe wird oftmals mit ihren Qualitäten verwechselt bzw. gleichgesetzt. 
Nicht jeder Stein eignet sich unter sog. „ökologischen“ Gesichtspunkten auch 
als primärer Baustoff für die Häuser in der Region, in der dieser Stein auch 
vorkommt. Er wurde (in der Tradition) oft nur mangels anderer, vielleicht 
besserer verwendet, weil deren Transport wiederum zu teuer geworden wäre 
oder sie tatsächlich noch gar nicht bekannt waren (aber trotzdem woanders 
benutzt wurden). Vielleicht sind die Löhne im hiesigen Steinbruch auch 
geringer gewesen als in der entfernten Ziegelei, Fabrik ...? Diese Baustoffe und 
ihre Anwendung ergaben zusammen erst die Qualität, die aber durch andere 
immer verbessert werden konnte; sie haben also keine unbedingte Qualität an 
und für sich, nur weil sie zufällig hier vorhanden sind; sondern nur unter 
Berücksichtigung und nach Abwägung vieler Faktoren (Transport, Löhne, 
Verarbeitungsmöglichkeit, Stand der Prod.-Kräfte etc.). 
Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car, 
Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff von „Heimat“. 
H. Meyer 1926 
Die zunehmende und notwendige Mobilität eines Großteils der Bevölkerung 
verhindert einerseits ihre Identifikationsversuche mit einer Örtlichkeit in einer 
Region, in der man nur kurz lebt, gelebt hat, andererseits versammelt sie aber 
viele verschiedene Bedürfnisse, die sich aus der Verschiedenheit der Herkunft 
der Menschen, der Gruppenergeben, an eben diesem Ort. Wessen Tradition (in 
der Bau- und Lebensweise) ist denn dann gemeint? Die des imaginären Ortes, 
der hier „angestammten“ oder der zugereisten Menschen ...? Haben nicht in der 
Geschichte gerade größere Bevölkerungsverschiebungen, die Wanderungen, 
Innovationen und starke Veränderungen auch in der Architektur mit sich 
gebracht? Ist die Tradition eines Ortes nicht immer auch durch die dort zu dem 
jeweiligen Zeitpunkt lebenden, arbeitenden, denkenden und sich diesen Ort 
aneignenden Menschen bestimmt? 
Den Halbnomaden des heutigen Wirtschaftslebens bringt die Standardi- 
sierung seines Wohnungs-, Kleidungs-, Nahrungs- und Geistesbedarfs 
lebenswichtige Freizügigkeit, Wirtschaftlichkeit, Vereinfachung und Ent- 
spannung 
H. Meyer 1926 
Einzelform und Gebäudekörper; Materialfarbe und Oberflächenstruktur 
erstehen automatisch, und diese funktionelle Auffassung des Bauens jeder Art 
führt zu einer Konstruktion. 
H. Meyer 1926 
px 
(...) Zeugen einer neuen Zeit: Muster-Messe, Getreide-Silo, Music-Hall, Flug- 
Platz, Büro-Stuhl, Standard-Ware. Alle diese Dinge sind ein Produkt der 
Formel: Funktion mal Ökonomie. Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer 
Prozeß, und der zweckmäßigen Funktion eines Hauses widerspricht je und je 
die künstlerische Komposition. 
H. Meyer 1926 
In der Tradition bestimmter Regionen fällt die Nützlichkeit, die sog. 
„funktionelle“, für direkten Gebrauch gebaute Architektur und deren 
Bauweise auf. Die jeweiligen Veränderungen in der Lebensweise (die auch eine 
unbedingte Veränderung der Aneignung der Natur durch den Menschen und 
durch seine Arbeit an ihr beinhaltet; und die geht weiter), sind laufend 
berücksichtigt und abhängig von den ökonomischen Möglichkeiten gemacht 
worden. Es wurde nämlich immer schon unterschieden zwischen teuren und 
billigen Häusern, also zwischen Arm und Reich und deren jeweiligen 
Möglichkeiten (und Notwendigkeiten), sich auch dementsprechend zu 
(re)präsentieren (mit eben den Behausungen). Unsere Zeit unterwirft uns aber 
einem noch rascheren Lebenswandel; einem Wandel unserer Bedürfnisse nach 
bestimmten Räumen, in denen dieses Leben sich vollziehen, verwirklichen soll, 
ebenfalls. Das haben wir beim Bauen und der vorherigen theoretischen 
Reflektion über das noch zu Bauende zu berücksichtigen. 
Die Vereinheitlichung der Bedürfnisse beweisen: Der Melonehut, der 
Bubikopf, der Tango, der Jazz, das Coop-Produkt, das DIN-Format und 
Liebigs Fleischextrakt. 
H. Meyer 1926 
IV 
Baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen und 
der sonne. Der mensch der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern 
ein hanswurst. Der bauer kleidet sich nicht malerisch. Aber er ist es. 
A. Loos 1913 
Die Landschaft. Wie hat sich der Architekt (der Baumeister) dieser zu stellen? 
Inwieweit hat er auf Farbe, topographische Gegebenheiten (Dachneigung und 
Hügel), Struktur des Materials, Größenordnungen etc, zu reagieren? Ist nicht 
aber die Landschaft oder das, was von ihr übrig ist, so häufig verändert und 
kultiviert worden durch die Arbeit an ihr, gegen sie und im Ringen mit ihr, daß 
es „die Landschaft“, die es im Bewußtsein (meist des Städters!) zu erhalten, zu 
schützen gilt, im Rohzustand, in der Form, indersie uns nur allzuoft idealisiert 
erscheint, gar nicht mehr gibt? Haben nicht auch die neu sich hier ansiedelnden 
(ansiedeln müssenden) Menschen das Recht, sich diese Landschaft (Region, 
diesen Ort) samt ihrer Natur, deren Teil sie ja ebenso wie die hier schon länger 
ansässigen Menschen sind, anzueignen? Unsere Vorstellung von Landschaft ist 
doch meist nur von der Anschauung her (und ihrem Gebrauch: sie gibt ja her: 
Brot, Wasser etc.) geprägt und nicht von der eigenen Arbeit an und mit ihr. 
Sei wahr! Die natur hält es nur mit der wahrheit. Mit eisernen gitterbrücken 
verträgt sie sich gut, aber gotische bogen mit brückentürmen und 
schießscharten weist sie von sich. 
A. Loos 1913
	        
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