stand gemacht. Wir stehen nicht am Ende,
nicht am Anfang einer Entwicklung, sondern
wir stehen in der Tradition der Debatte, die
seit der Industrialisierung (mit all ihren
Implikationen) Probleme wie den Stadt-
Land-Gegensatz, modernes Nomadentum
(notwendige Mobilität der Arbeitskräfte) und
(im Bauen) Standardisierung, Typisierung,
Normierung behandelt und somit auch
ausgelöst hat die Debatte um das, worum es
uns hier geht (einschließlich des ideologisch
besetzten Gegenstücks zu „Regionalismus“,
dem „Internationalismus“, gegen den ja auch
polemisiert wird, will man heutzutage „mo-
dern“ sein).
Dies kann gelesen werden als ein Plädoyer
für die wieder aufzunehmende (und wieder-
holte) Lektüre der Schriften von Adolf Loos
und von Hannes Meyer, ein Plädoyer für das
Stöbern und Wiedereintauchen in 50 bis 80
Jahre alte Gedanken. Beide zeigen, daß die
Probleme des Bauens, der Heimatkunst, des
Regionalismus nicht nur als auf einer Ebene
gelagert diskutiert werden müssen, sondern
diese auch sozusagen einen vertikalen Zusam-
menhang miteinander haben; diese Beziehun-
gen wiederum mit Fortschreiten der gesamt-
gesellschaftlichen, geistigen und materiellen
Produktion komplexer und komplizierter
werden, was zwar ihre Aufknüpfung er-
schwert, aber nicht unmöglich macht.
Hannes Meyers Ausführungen zum in-
dustrialisierten Wohnungsbau, zur „Neuen
Welt“, zum eigenen frühen Projekt des
„Freidorfs“ bei Basel, einem genossenschaft-
lichen Siedlungskomplex (1919-1924), bei
dem „äußerlich versucht ist, jurassische
Bauweise zu typisieren ...“, Adolf Loos’
Schriften und Aufsätze, z.B. die „Regeln für
den, der in den Bergen baut“ (1913) und
„Heimatkunst“ (1914) und sein uneinge-
schränktes Eintreten für eine „Moderne“
einerseits und sein Wettern gegen jeden
Versuch der Rückschrittlerei und Bauern-
tümelei andererseits, können die gegenwärti-
ge Debatte bestimmt beleben. Nehmen wir
doch mal die Tatsache, daß die wichtigen
Schriften dieser beiden frühen und aufrich-
tigen modernen Menschen zu einem Zeit-
punkt großer Orientierungslosigkeit und sich
vordrängelnder neuer „ismen“ wieder zu-
gänglich gemacht wurden, einmal ernst und
als Wink und lassen uns auf sie ein; oder:
„Wir arbeiten so gut als wir können, ohne
auch nur eine sekunde über die form nachzu-
denken. Die beste form ist immer schon bereit
und niemand fürchte sich, sie anzuwenden,
wenn sie auch in ihrem grunde von einem
anderen herrührt. Genug der originalgenies!
Wiederholen wir uns unaufhörlich selbst! Ein
haus gleiche dem anderen! Man kommt dann
zwar nicht in die „deutsche kunst und
dekoration“ und wird nicht kunstgewerbe-
schul-professor, aber man hat seiner zeit, sich,
seinem volke und der menschheit am besten
gedient. Und damit seiner heimat!“
A. Loos
Heimatkunst, 1914
Loos, Adolf
Ins Leere gesprochen 1897-1900
Paris/ Zürich 1921
Neuauflage: Wien 1981
Loos, Adolf
Trotzdem 1900-1930
Innsbruck 1931
Neuauflage: Wien 1982
Loos, Adolf
Die potemkinsche Stadt
Verschollene Schriften 1897-1933
Wien 1983
Meyer, Hannes
Bauen und Gesellschaft
Schriften, Briefe, Projekte
Dresden 1980
A
Achte auf die formen, in denen der bauer baut. Denn sie sind der
urväterweisheit geronnene substanz. Aber such den grund der form auf. Haben
die fortschritte der technik es möglich gemacht, die form zu verbessern, so ist
immer die verbesserung zu verwenden. Der dreschflegel wird von der
dreschmaschine abgelöst.
A. Loos 1913
Die ausschließliche Verwendung am Orte (wie groß ist diese „Region“
eigentlich heute, bei Elektrifizierung, Eisenbahn und Flugzeug?) vorhandener
Baustoffe wird oftmals mit ihren Qualitäten verwechselt bzw. gleichgesetzt.
Nicht jeder Stein eignet sich unter sog. „ökologischen“ Gesichtspunkten auch
als primärer Baustoff für die Häuser in der Region, in der dieser Stein auch
vorkommt. Er wurde (in der Tradition) oft nur mangels anderer, vielleicht
besserer verwendet, weil deren Transport wiederum zu teuer geworden wäre
oder sie tatsächlich noch gar nicht bekannt waren (aber trotzdem woanders
benutzt wurden). Vielleicht sind die Löhne im hiesigen Steinbruch auch
geringer gewesen als in der entfernten Ziegelei, Fabrik ...? Diese Baustoffe und
ihre Anwendung ergaben zusammen erst die Qualität, die aber durch andere
immer verbessert werden konnte; sie haben also keine unbedingte Qualität an
und für sich, nur weil sie zufällig hier vorhanden sind; sondern nur unter
Berücksichtigung und nach Abwägung vieler Faktoren (Transport, Löhne,
Verarbeitungsmöglichkeit, Stand der Prod.-Kräfte etc.).
Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car,
Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff von „Heimat“.
H. Meyer 1926
Die zunehmende und notwendige Mobilität eines Großteils der Bevölkerung
verhindert einerseits ihre Identifikationsversuche mit einer Örtlichkeit in einer
Region, in der man nur kurz lebt, gelebt hat, andererseits versammelt sie aber
viele verschiedene Bedürfnisse, die sich aus der Verschiedenheit der Herkunft
der Menschen, der Gruppenergeben, an eben diesem Ort. Wessen Tradition (in
der Bau- und Lebensweise) ist denn dann gemeint? Die des imaginären Ortes,
der hier „angestammten“ oder der zugereisten Menschen ...? Haben nicht in der
Geschichte gerade größere Bevölkerungsverschiebungen, die Wanderungen,
Innovationen und starke Veränderungen auch in der Architektur mit sich
gebracht? Ist die Tradition eines Ortes nicht immer auch durch die dort zu dem
jeweiligen Zeitpunkt lebenden, arbeitenden, denkenden und sich diesen Ort
aneignenden Menschen bestimmt?
Den Halbnomaden des heutigen Wirtschaftslebens bringt die Standardi-
sierung seines Wohnungs-, Kleidungs-, Nahrungs- und Geistesbedarfs
lebenswichtige Freizügigkeit, Wirtschaftlichkeit, Vereinfachung und Ent-
spannung
H. Meyer 1926
Einzelform und Gebäudekörper; Materialfarbe und Oberflächenstruktur
erstehen automatisch, und diese funktionelle Auffassung des Bauens jeder Art
führt zu einer Konstruktion.
H. Meyer 1926
px
(...) Zeugen einer neuen Zeit: Muster-Messe, Getreide-Silo, Music-Hall, Flug-
Platz, Büro-Stuhl, Standard-Ware. Alle diese Dinge sind ein Produkt der
Formel: Funktion mal Ökonomie. Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer
Prozeß, und der zweckmäßigen Funktion eines Hauses widerspricht je und je
die künstlerische Komposition.
H. Meyer 1926
In der Tradition bestimmter Regionen fällt die Nützlichkeit, die sog.
„funktionelle“, für direkten Gebrauch gebaute Architektur und deren
Bauweise auf. Die jeweiligen Veränderungen in der Lebensweise (die auch eine
unbedingte Veränderung der Aneignung der Natur durch den Menschen und
durch seine Arbeit an ihr beinhaltet; und die geht weiter), sind laufend
berücksichtigt und abhängig von den ökonomischen Möglichkeiten gemacht
worden. Es wurde nämlich immer schon unterschieden zwischen teuren und
billigen Häusern, also zwischen Arm und Reich und deren jeweiligen
Möglichkeiten (und Notwendigkeiten), sich auch dementsprechend zu
(re)präsentieren (mit eben den Behausungen). Unsere Zeit unterwirft uns aber
einem noch rascheren Lebenswandel; einem Wandel unserer Bedürfnisse nach
bestimmten Räumen, in denen dieses Leben sich vollziehen, verwirklichen soll,
ebenfalls. Das haben wir beim Bauen und der vorherigen theoretischen
Reflektion über das noch zu Bauende zu berücksichtigen.
Die Vereinheitlichung der Bedürfnisse beweisen: Der Melonehut, der
Bubikopf, der Tango, der Jazz, das Coop-Produkt, das DIN-Format und
Liebigs Fleischextrakt.
H. Meyer 1926
IV
Baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen und
der sonne. Der mensch der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern
ein hanswurst. Der bauer kleidet sich nicht malerisch. Aber er ist es.
A. Loos 1913
Die Landschaft. Wie hat sich der Architekt (der Baumeister) dieser zu stellen?
Inwieweit hat er auf Farbe, topographische Gegebenheiten (Dachneigung und
Hügel), Struktur des Materials, Größenordnungen etc, zu reagieren? Ist nicht
aber die Landschaft oder das, was von ihr übrig ist, so häufig verändert und
kultiviert worden durch die Arbeit an ihr, gegen sie und im Ringen mit ihr, daß
es „die Landschaft“, die es im Bewußtsein (meist des Städters!) zu erhalten, zu
schützen gilt, im Rohzustand, in der Form, indersie uns nur allzuoft idealisiert
erscheint, gar nicht mehr gibt? Haben nicht auch die neu sich hier ansiedelnden
(ansiedeln müssenden) Menschen das Recht, sich diese Landschaft (Region,
diesen Ort) samt ihrer Natur, deren Teil sie ja ebenso wie die hier schon länger
ansässigen Menschen sind, anzueignen? Unsere Vorstellung von Landschaft ist
doch meist nur von der Anschauung her (und ihrem Gebrauch: sie gibt ja her:
Brot, Wasser etc.) geprägt und nicht von der eigenen Arbeit an und mit ihr.
Sei wahr! Die natur hält es nur mit der wahrheit. Mit eisernen gitterbrücken
verträgt sie sich gut, aber gotische bogen mit brückentürmen und
schießscharten weist sie von sich.
A. Loos 1913