Serie: Verdrängte Alternativen
[ m Stadtplanungsamt Stuttgart war kürz-
lich eine kleine Ausstellung" zu sehen,
die — auf den ersten Blick unscheinbar —
kaum Aufmerksamkeit weckte: In einigen
Rahmen hingen dort zwischen den Amtsstu-
ben im ersten Stock Skizzen und Texte von
Laien, die den Planungsexperten der Stadt
Ratschläge zur Stadtentwicklung gaben. In
einer Zeit der gängigen Zusatz-Legitimation
der Planung durch routinierte OÖffentlich-
keitsarbeit konnte man diese Ausstellung
leicht übersehen, wenn nicht auf den zweiten
Blick die vergilbten Papiere und umständli-
chen Handschriften stutzig gemacht hätten:
Die Blätter waren fast sämtlich um die Jah-
reswende 1946/47 verfaßt worden und zeigten
nur einen winzigen Ausschnitt aus einer breit
gestreuten Volks-Befragung, die ein Zufalls-
fund kürzlich zutage gefördert hatte. Beim
Umzug vom alten in das neue Amtsgebäude
waren die Planer auf einige alte Ordner ge-
stoßen, in denen unmittelbar nach dem II.
Weltkrieg auf Hunderten von Seiten Stutt-
garter Bürger ihre Vorstellungen zum Auf-
bau ihrer Stadt dargelegt hatten. In einem „li-
terarischen Preisausschreiben” waren sie
1946 dazu aufgefordert worden, unbefangen
Wünsche und Vorschläge zu äußern — der
wohl früheste Versuch einer breiten Bürger-
beteiligung im Vorfeld der Planung.
Für den heutigen Betrachter können diese
Blätter zu erschütternden Dokumenten einer
Zeit der Orientierungsverluste werden. Zu-
gleich liegt die Distanzierung gegenüber
„Volkes Stimme” als gemischtem Chor der
Inkompetenten nahe. Umso mehr muß aber
verwundern, daß ein entsprechendes Bild der
Verunsicherung zwischen kontroversen Posi-
tionen auch in einem Wettbewerb von Fach-
leuten zum Ausdruck kommt, die zum Auf-
bau der Stadt aufgefordert waren: Schon
1945 wurde ein Wettbewerb zur Innenstadt
Stuttgarts ausgeschrieben und Ende 1947 be-
kanntgegeben, „nachdem alle Preisträger po-
litisch überprüft waren””.
Im doppelten Spiegel der Laien- und Exper-
tenmeinungen zur Zukunft der Stadt reflek-
tiert sich die geistige Situation einer Zeit, auf
die der folgende Artikel nur ein kurzes
Schlaglicht werfen kann.
Das „Weihnachts-Preisausschreiben”
Winter 1946/47. Die Innenstadt Stuttgarts lag
in Trümmern. Seit den großen Fliegerangrif-
fen türmte sich noch immer der Schutt zwi-
schen den Ruinen, auf Straßen unf Plätzen.
Fast fünf Millionen Kubikmeter Trümmer-
schutt hatten die Stadt nach Beendigung der
Kriegshandlungen bedeckt”, erst allmählich
begann man damit, wenigstens die wichtig-
sten Straßen wieder freizuräumen. Doch Ar-
beitskräfte waren knapp, die Versorgung mit
Unterkunft und Verpflegung war katastro-
phal; gemessen am ständigen Zustrom der
Evakuierten und Flüchtlinge kam die In-
standsetzung der Wohnungen nur schleppend
voran.
Im April 1945 hatten für 230.000 Bewohner
noch 191.000 Wohnräume zur Verfügung ge-
standen, inzwischen lebten in rund 201.000
Wohnräumen 380.000 Menschen, rechne-
risch also fast zwei in jedem Zimmer.” Bei ei-
ner unbeschreiblichen Wohnungsnot waren
die Lebensumstände weiter chaotisch, über
öffetnlich ausgehängte Bekanntmachungen
wurde administrativ das Lebensnotwendigste
geregelt. Die Besatzungsmacht hatte einen
Oberbürgermeister eingesetzt, dessen An-
weisungen und Ansprachen wieder Ordnung
in das zerrüttete Leben der Stadt zu bringen
versuchte. So heißt es in seinem ersten Auf-
ruf im Mai 1945 als „Mitteilung der Militärre-
gierung”:
Werner Durth, Friedemann Gschwind
Stuttgart —
Wettbewerbe um
Zukunftsbilder
„Stuttgarter! Sinnloser Widerstand eines Systems, dessen
Träger nie Arbeit geleistet haben, hat unsere schöne Stadt
weitgehend in einen Trümmerhaufen verwandelt. Ihrem
Aufbau gilt die Hauptsorge aller anständigen Einwohner.
Der Fortgang des Aufbaus hängt weitgehend von eigenem
Einsatz und eigener Initiative ab... Ich bin überzeugt, daß
durch Selbsthilfe auch bei bescheidenen Mitteln in harter
Arbeit viel geschafft werden kann und weiß, daß gerade die
Stuttgarter mit den altbekannten Schwabentugenden, Fleiß
und Zähigkeit, an die Arbeitr gehen und damit öffentliche
Gemeinschaftsarbeit erleichtern werden!””
Nicht allein aus der Kompetenz der Exper-
ten, sondern auch aus der Summe der Kennt-
nisse und Bedüfnisse der Bewohner sollte
sich die Planung der Stadt als ein bewußter
und öffentlich ausgetragener Prozeß entwik-
keln. Dazu sollte den Stuttgartern Mut ge-
macht werden:
Zwischen all den nüchternen Appellen an
Selbstbescheidung und Mitarbeir zum Wie-
deraufbau der Stadt gab es jedoch einen Auf-
ruf, der angesichts der Zerstörungen ringsum
geradezu grotesk wirken mußte: Als Plakat
an vielen Stellen der Stadt veröffetnlicht, for-
derte die Bekanntmachung Nr. 176 vom 7.
Januar 1947 die Bewohner der Stadt Stuttgart
zum Träumen auf — als Hilfe zu einer voraus-
schauenden Planung der Zukunft der Stadt
war Weihnachten 1946 ein Wettbewerb aus-
geschrieben worden, in dem jedermann zur
Beteiligung an der Stadtplanung aufgefordert
wurde.
„Tausend und abertausend Fragen gibt es und ihre Lösun-
gen zusammen erst ergeben die Stadt, in der Generationen
unserer Enkel, Ur- und Ur-Urenkel leben, lieben, sich freu-
en, arbeiten, denken und sterben. Gibt es ein schöneres
und ergiebigeres Thema für uns alle, uns da den Kopf zu
zerbrechen und mitzuraten, was und wie es werden soll?”
Die Beiträge waren an die Zentralstelle für
den Aufbau Stuttgarts (ZAS) zu senden. Für
insgesamt 52 Preise war eine Summe von
5.000 Mark eingesetzt; vier erste Preise zu je
250,-- waren zu vergeben, gestaffelt folgten
dann kleinere Beträge bis hin zu 22 Preisen ä
50,-- Reichsmark. Nicht eben viel — doch die
Reaktion war gewaltig: über 250 Beiträge
wurden zum Wettbewerb eingereicht. Die
meisten davon waren — wie gefordert — als
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‚Wohnkeller ”
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links:
Der damaligen Wirklichkeit
angemessen, aber schon bald
von der neuen Realität des
Wirtschaftswunders überrollt:
”Der Wohnkeller”.
In der offenen
Baugrube steht der provosorisch
gedeckte Keller als Not-
unterkunft. Später kann ein
Fertighaus aufgesetzt werden
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rechts:
Andere Teilnehmer des
”Weihnachtswettbewerbs”
schienen von der Not der Nach-
kiregszeit weniger berührt,
jedenfalls konnten sie sich auch
angesichts der Trümmerwüste
Stuttgart als ”güldenes
Kleinod” vorstellen. Unfähig
keit zu trauern oder ver:
zweifelter Drang, dem Kriegs
ergebnis noch ein Prinzip
Hoffnung abzutrotzen?
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