Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

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„Deutschland hat sich nicht von Grund auf erneuert und 
umbesonnen — es war nur auf Rettung bedacht in einem 
oberflächlichen, raschen, mißtrauischen und gewinnsüchti- 
gen Sinn, es wollte leisten und hoch- und davonkom- 
men... ” 
Mit diesen Worten Rilkes aus der Zeit nach 
dem I. Weltkrieg schließt Hoss seinen bilan- 
zierenden Vortrag über „Planung und Auf- 
bau in Stuttgart” ab, den er 1954 vor der 
Deutschen Akademie für Raumplanung und 
Städtebau hielt, und setzt nach: 
„Die in unserer Gesellschaft herrschende und in der Nach- 
kriegsgesetzgebung sich niederschlagende übersteigerte 
Sorge um die Wahrung des privaten Eigentums unter Zu- 
rückstellung lebenswichtiger öffentlicher Interessen er- 
wächst aus einer Überspitzung des Freiheitsbegriffs.”!® 
Der später ausgerechnet im Amtsblatt der 
Stadt Stuttgart abgedruckte Vortrag von 
Hoss liest sich streckenweise wie eine sarka- 
stische Auflistung gescheiterter Planungsan- 
sätze, die nur selten, und dann nur mit äußer- 
stem Aufwand, die dichte Barriere des ge- 
schäftstüchtigen Eigensinns der Bewohner 
hatten überwinden können. Kernproblem al- 
ler gescheiterten und verschleppten Plan- 
ungsansätze waren neben der mangelnden 
Kooperationsbereitschaft der Eigentümer 
die unzureichenden Rechtsgrundlagen, die 
Stuttgart von den anderen deutschen Groß- 
städten unterscheidet. Sowohl was das Plan- 
verfahren wie die Baulandumlegung betrifft, 
waren die Bestimmungen in Baden-Würt- 
temberg‘” einer raschen Neuordnung eher 
hinderlich als fördernd: Anders als in den 
Aufbaugesetzen anderer Bundesländer 
konnte z.B. bei einem Umlegeverfahren 
schon durch einen einzigen Einspruch jedes 
Projekt lahmgelegt werden, ohne daß eine 
vorläufige Besitzeinweisung der anderen Be- 
teiligten möglich ist. Auch freiwillige Zusam- 
menschlüsse der Beteiligten ganzer Blöcke 
und Teilgebiete der Stadt konnten mit Hilfe 
dieses Aufbaugesetzes nicht gefördert wer- 
den, wie Hoss beklagt, und Zwangszusam- 
menschlüsse waren unpraktikabel: 
„Aus diesem Grunde sind bisher freiwillige Aufbaugemein- 
schaften, auch wenn sich fortschrittlich gesinnte Männer 
mit aller Hingabe daran versucht haben, nicht zustande ge- 
kommen. ”!® 
Unter solchen Bedingungen mußten selbst 
die damals weithin gültigen und andernorts 
auch von den Bewohnern akzeptierten Leit- 
bilder des Städtebaus der Nachkriegszeit ihre 
Bedeutung verlieren, die auch Hoss über- 
schwenglich proklamierte und Klett schließ- 
lich übernahm: 
„unser heutiges Lebensgefühl sucht Weite, Auflockerung, 
Grünverbindungen. Es will nicht mehr die ’steinerne 
Stadt’; will vielmehr die Aufhebung der Schwere, Durch- 
sichtigkeit, verglaste Fassaden. Die Farbe kommt zu ihrem 
Recht. Wir versuchen Heiterkeit in die gestalteten Bilder 
unserer Umgebung zu bringen.”!” 
Laienvorschläge zwischen gleichermaßen 
radikaler Wendung nach rückwärts und 
vorwärts: Rathausneubau an neuer Stelle, 
überladen mit historischem und für 
Stuttgart untypischem Ballast (oben). 
Daneben Vorschläge für den auto- 
gerechten Ausbau des Bahnhofsvor- 
platzes (unten). Die Kahlschläge für die 
Verkehrsstraßen der 60-er Jahre, die 
in der NS-Planung schon vorgezeichnet 
waren, werden schon früh in Bilder 
technizistischer Utopien 
übersetzt. 
Doch solche Hoffnungen blieben lange ver- 
gebens. Erst die Zwänge des Verkehrsauf- 
kommens der späteren Jahrzehnte geben die 
Anstösse zur pervertierten Realisierung von 
„Weite” im Stadtraum — dann allerdings zu- 
meist ohne die damals intendierte „Heiter- 
keit”. Aus der Distanz von mehr als drei 
Jahrzehnten betrachtet, wirken die frühen 
Planungsversuche in Stuttgart fast hilflos ge- 
genüber den Mächten des Grundeigentums 
und der damit verbundenen Mentalität der 
Bestandsicherung, die in den besseren Tagen 
früherer Zeiten noch stets die beste Zukunft 
weiß. Zur düsteren Pointe der Untersuchung 
Stuttgarter Nachkriegsgeschichte verdichtet 
sich zudem eine Reihe von Eindrücken, in 
denen die „Gegenwart der Vergangenheit” 
nicht nur in der personellen Kontinuität der 
Eigentümer, sondern auch in Politik und Pla- 
nung selbst bereits vorgezeichnet ist. 
So werden bereits in den Plänen zur Neuge- 
staltung Stuttgarts als „Stadt der Auslands- 
deutschen” 1941'” vom Innenstadtring bis 
zur Verlegung des Hauptbahnhofs fast sämt- 
liche Planungsprobleme der Nachkriegszeit 
vordiskutiert — allerdings zentriert um die 
„Notwendigkeit, Partei und Staat repräsen- 
tativ in Erscheinung treten zu lassen”‘”, An- 
läßlich der Pläne zum Bau eines repräsentati- 
ven „Gauforums” als Sitz des Reichsstatthal 
ters bei gleichzeitiger „Tendenz zur Auflok- 
kerung der Großstädte” wird festgestellt: 
„Die vorliegenden Raum- und Verkehrsprobleme erfor- 
dern schon aus sachlichen Gründen eine solche Fülle groß- 
zügiger Lösungen, daß sich daraus ohne Zwang ein ein- 
drucksvolles neues Stadtbild gestalten 1äßt, das Ausdruck 
der nationalsozialistischen Weltanschauung ist. Die Stadt 
Stuttgart hat sich seit der Machtübernahme in vielfacher 
planerischen Untersuchungen mit diesen Problemen be- 
faßt, sie hat sich dabei auch von außerhalb der Stadtverwal- 
tung stehenden Fachleuten des Städtebaus und des Ver: 
kehrswesens beraten lassen 7?" 
Von Paul Bonatz, der „Ähnlich der Ost- 
West-Achse in Berlin”?” eine gewaltige 
Stadt-Einfahrt vorschlug, über Pirath, Wetzel 
und Tiedje reicht die Reihe namhafter Pro- 
fessoren, deren Vorschläge damals „von 
wertvollster Bedeutung”“” waren. Die Bear- 
beitung der Pläne besorgte Baudirektor 
Stroebel, der nach dem Krieg neben Klett im 
Preisgericht zum Altstadt-Wettbewerb ge- 
nannt ist, an dem sich auch Prof. Tiedje be- 
teiligte. Prof. Pirath setzte nach 1945 seine 
Studien zur Verkehrsplanung fort, die 1947 
in die Diskussion des Es 
eingehen, der wiederum eine Grundlage des 
Generalbebauungsplanes von 1948 bildet. 
Der Krieg erst schuf die Bedingungen der 
Möglichkeit einer Realisierung von Planun- 
gen, die in den 40er Jahren bereits in Grund- 
zügen vorbereitet waren — nicht nur in Stutt 
gart. 
Anmerkungen 
1) Die Ausstellung wurde von Herrn Claus Endmann 
vom Stadtplanungsamt Stuttgart arrangiert, dem die 
Autoren für seine Unterstützung danken. Die Aus- 
stellung soll im Spätherbst in erweiterter Form im 
Rathaus der Stadt Stuttgart gezeigt werden. 
2 H. Vietzen, Chronik der Stadt Stuttgart 1945-1948, 
Stuttgart 1972, S. 375 
3) a.a.0., 8.361 
1) A. Klett, Rechenschaftsbericht über das erste Jahr, in: 
A. Klett, Bürger. Gemeinde. Staat. Stuttgart 1948, S 
1.5 
5) H. Virtzen, a.a.O., S.. 361. f. 
u) 8.8.0. 5. 370 
7) Unterlagen des Stadtplanungsamtes Stuttgart 
R} K. Gonser, 1927-1929 Mitarbeiter von Paul Bonatz, 
1930-1933 Hauptassistent von Heinz Wetzel und da- 
nach freischaffender Architekt, war 1948-1951 Stadt- 
baudirektor in Stuttgart. 
G.F. Heyer, der bei Döcker studiert hatte und im Alt- 
stadtwettbewerb ebenfalls einen zweiten Preis gewann, 
übernahm 1953 die Leitung des Stadtplanungsamts, 
nachdem er seit 1946 bei der ZAS beschäftigt war. 
Vgl. W. Voigt, Die ’Stuttgarter Schule’ und die Alltag- 
sarchitektur des Dritten Reiches, in: ARCH* Heft 68, 
Mai 1983. Eine ausführliche Darstellung des histori- 
schen Hintergrunds gibt W.C. Schneider, Hitlers 
„wunderschöne Hauptstadt des Schwabenlandes”, in: 
Demokratie und Arbeitergeschichte Jahrbuch 2, hrsg. 
von der Franz Mehring Gesellschaft Stuttgart, Stuttgart 
1982 
11) vgl. H. Vietzen, a.a.O., und K. Leipner, Chronik der 
Stadt Stuttgart 1949-1953, Stuttgart 1977 
12) A. Klett, a.a.O.,S. 137 
14) A. Klett, Rechenschaftsbericht über das zweite Jahr. 
in: A. Klette, Bürger. Gemeinde. Staat, Stuttgart 1948, 
S. 160 
15) Vlg. u.a. G. Grauvogel, Die rechtlichen Grundlagen 
beim Wiederaufbau Stuttgarts. In: Kommunalpoliti- 
sche Blätter, Ausgabe Baden-Württemberg, Heft 9, 
1955. 
W. Hoss, a.a.O., S. 6. In seinem Bericht schildert Hoss 
anhand von Plänen vom mühsamen Aufbau einer Ge- 
schäftsstraße folgendermaßen: „Die Kleinparzellie- 
rung ist deutlich zu erkennen. Die Begleitmusik zur 
Geburt der Aufbauidee nach dem Kriegsschaden und 
zum neuen Gestaltungsvorschlag lieferte das Ringen 
der anliegenden Grundeigentümer um jeden Zentime- 
ter Ladenfrontlänge.” 
Die Darstellung eines 5-jährigen mühevolen Unterneh- 
mens zur Neugestaltung einer stark zerstörten Block- 
bebauung endet mit einem bescheidenen Erfolgsbe- 
richt; „Der Versuch zur Bildung einer sogar nur klei- 
nen Blockgemeinschaft, im Gespräch von Bürgern zu 
Bürgern vor fünf Jahren begonnen, ist mißlungen und 
mußte durch förmliches Verfahren ersetzt werden, das 
erst nach weiteren drei Jahren zum Abschluß gebracht 
werden konnte!” 
a.a.O., S. 3. Entsprechend formuliert Klett, in: Kom- 
munalpolitische Blätter. Ausgabe Baden-Württem- 
berg, Heft 7, Jahrgang 7, Recklinghausen 1955, S. 271. 
Dort führt Klett rückblickend weiter aus: „So mußte 
gerade in Stuttgart vielenorts vielleicht doch allzuviel 
bisheriges Baugelände vor Rechtskraft des neuen Plans 
dem Wiederaufbau auf der alten, heute ganz unzurei- 
chend gewordenen Grundlage überlassen werden in 
Ermangelung anderswo möglicher gesetzlicher Hand- 
haben und aus der Sorge heraus, im Hinblick auf die 
Rechtsunsicherheit über den Charakter gemeindlicher 
Bausperren, deren Verhängung nicht überall, wo es an 
sich not tat, verantworten zu können.”” 
Die „Ende 1941” datierte und vom damaligen Ober- 
bürgermeister Strölin unterzeichnete Untersuchung zur 
„Neugestaltung der Stadt der Auslandsdeutschen Stutt- 
gart” liegt im Stadtarchiv aus. 
19) a.a.O0.,5.4 
sn a.a.0.,5.6 
21) a.2.0.,5. 12 
22) a.a.O., Schlußwort von ON Strölin 
23) Ausführlich hierzu: W.C. Schneider, a.a.0 
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