Zur Person: Robert Nöll von der Nahmer: 1899 gebo-
ren, Verwaltungs- und Banktätigkeit, Habilitation 1934 in
Breslau, 1935 ao Professor in Breslau, 1940 Ruf an Hoch-
schule für Welthandel in Wien, 1946 - 1964 Lehrstuhl für
Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Uni-
versität Mainz; Mitglied des Parlamentarischen Rates und
des 1. Bundestages für die FDP
Von Krise zu Krise - Vorschläge ohne
Publikum
Der im Mai 1982 geschriebene und hier (erst-
malig) veröffentlichte „Vorschlag“ des inzwi-
schen 84jährigen läßt inhaltlich und kontex-
tuell - in den Reaktionen, die er provoziert -
die Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschafts-
krise von 1929 wiedererstehen. Bis in den Stil
haben wir es hier mit einem Arbeitsbeschaf-
fungsprogramm wie zu Zeiten der größten
aller Industriekrisen zu tun; Hauptelement:
die produktive Kreditschöpfung. Eine theore-
tische Begründung dafür hatte Nöll von der
Nahmer 1934 in einer Aufsehen erregenden
Schrift (seiner Habilitation) geliefert (vgl.
Faksimile). Und obwohl die Idee der produk-
tiven Kreditschöpfung zu den fundamentalen
kollektiven Lernprozessen der 30er Jahre
zählt, ist es heute so, als hätte es sie weder als
wissenschaftliches Konzept noch als politische
Option je gegeben. Schlimmer noch: Nöll von
der Nahmer erlebt zum zweiten Mal in sei-
nem Leben, was es heißt, außerhalb der Or-
thodoxie zu denken. Die Reaktionen reichen
von höflichem Ignorieren bis zu Kommenta-
ren wie „altersschwach“ oder „spinnert“.
Keine der politikbestimmten Institutionen
und Medien, keiner der Personen des öffentli-
chen Lebens, denen Nöll von der Nahmer
seinen „Vorschlag“ unterbreitete, hat mehr als
respektvoll abgewinkt. Weder die IG-Bau,
noch die Ministerien Bau, Finanzen und Ar-
beit und Soziales zur Zeit der sozial-liberalen
Koalition, noch der damalige Oppositionsfüh-
rer Kohl, auch keine der großen Zeitungen wie
ZEIT, FAZ und Süddeutsche, die früher ger-
ne die Beiträge Nölls nahmen, haben das ge-
ringste Zeichen von Interesse gezeigt.
Der Immobilismus der Orthodoxien
Es geht Nöll von der Nahmer heute so, wie all
jenen Außenseitern, die nach 1929 begonnen
haben, Konzepte aktiver Konjunkturpolitik
zu entwickeln und in die öffentliche Debatte
zu bringen. Diese Innovatoren, später „Re-
former“ genannt, wurden seitens der verschie-
densten Orthodoxien, einerlei ob links oder
rechts, schwersten persönlichen Angriffen
ausgesetzt. Und immer war es vor allem die
neue Form der Finanzierung, die produktive
Kreditschöpfung, die die größte Empörung
auslöste; sicherlich, die große Inflation war
noch allen in Erinnerung; doch damit allein
war die geradezu hysterische Abwehr des
Neuen auch seitens der damals bekanntesten
Wissenschaftler nicht zu erklären. In Groß-
britannien warf beispielsweise die Labour
Party, die kein _Arbeitsbeschaffungspro-
gramm hatte, ausgerechnet der kleinen
Liberal Party, die unter Lloyd George das
erste moderne vorlegte (von Keynes unter-
stützt: „Can Lloyd George do it?, 1929), in den
Krisenwahlen den Hang zur „Diktatur“ vor;
der bekannte sozialistische Ökonom G.D.H.
Cole sprach von „madcap finance“ (vgl.
Skidesky 1967, S. 67ff; für einen Überblick
Novy 1982 b). In Deutschland blockierten
Hilferding und Naphtali in grandios antikapi-
talistischer Besserwisserei das gewerkschaftli-
che krisenpolitische Sofortprogramm (der
sog. WTB-Plan; vgl. hierzu Schneider 1975).
Klaus Novy; Robert Nöll v.d. Nahmer
Arbeitsbeschaffung im Bausektor
Warum nicht produktive Kreditschöpfung?
Als schließlich der wirtschaftliberale Prä-
sident des statistischen Reichsamtes und Leit-
ter des Instituts für Konjunkturforschung
Prof. E. Wagemann in einem ohnehin eher
späten Lernprozeß 1932, öffentlich der Lok-
kerung der rigiden Gelddeckungsregeln das
Wort redete, brach ein Sturm der Entrüstung,
ja eine Hetze gegen eine solche „Agitation ei-
nes hohen Beamten“ aus (vgl. Grotkopp S.
188; Kroll S. 396ff). Vom sozialistischen ko.
nom Landauer über den einflußreichen libera-
len Gustav Stolper bis zu den Industrielobbys,
eine unheilige Allianz der Deflationisten in
Politik, Publizistik und Wissenschaft sorgte
bis weit in das Jahr 1932 hinein für einen tota-
len Immobilismus der großen Parteien. Nur
die Nationalsozialisten als Partei reagierten
auf den herrschenden wirtschaftspolitischen
Irrsinn; mit einem keineswegs spezifisch na-
tional-sozialistischen Arbeitsbeschaffungs-
programm (dem sog. Straßer-Programm) er-
reichten sie im Sommr 1932 ihren größten
Wahlerfolg.
ausschließlich krisenpolitisch bedingten pro-
duktiven Kreditschöpfung nur geschadet. Als
ob es zwischen Ablehnung und Mißbrauch
keine Zwischenstufen gäbe.
Doch das Trauern über die Unfähigkeit, aus
Krisenerfahrungen zu lernen, ist so alt wie die
Krisen selbst (vgl. das Vorwort in Max Wirths
berühmter „Geschichte der Handelskrisen“, 2.
Aufl. Ffm 1874). Doch das nicht wenigstens
die Wissenschaft einen kumulativen Kenntnis-
stand sichert, gleichsam als „kollektives Ge-
dächtnis“ fungierend, macht betroffen.
Das wichtigste Vergessen!
Immerhin kann die notenbankgestützte pro-
duktive Kreditschöpfung durch den Staat als
die „selbstverständliche Schlußfolgerung aus
den Lehren der Jahre 1930/33“ (Grotkopp S.
168) angesehen werden.Auch haben fast alle
Zeugen dieser Entwicklung, gerade dort, wo
sie zunächst Kritiker waren, nachträglich den
„Reformern“ Recht.gegeben (vgl. beispiels-
weise Stolper 1948, S. 121). Und es liegen zwei
hervorragende Analysen der Wirtschaftspoli-
tik während der Weltwirtschaftskrise vor,
beide in der praktischen Absicht geschrieben,
Lehren für die Zukunft zu ziehen (Grotkopp
1954; und Kroll 1958). Die meines Erachtens
wichtigste Arbeit zur Weltwirtschaftskrise, die
Krolls, ein Denkmal für die Fruchtbarkeit
historisch fundierter Wirtschaftstheoriebil-
dung, bietet zudem explizit die Brücke zur
heutigen Krisenproblematik einer Gesell-
schaft, der die Arbeit auszugehen droht. 1958
zeichnet er das „Gespenst einer kommenden
Krise“ am Ende der durch die Elektronik be-
wirkten Rationalisierungswelle“ (722/723).
„Diesmal (wird) man sich mit dem Gedanken
vertraut machen müssen“ - schreibt Kroll
1958“ - daß es kaum möglich sein wird, die
Menschen jemals wieder in die Industrie zu-
rückzuführen, da in einer automatisierten In-
dustrie selbst bei einer Zunahme der privaten
Investitionen, die Voraussetzungen fehlen
werden, um größere Arbeitermassen für die
Dauer zu beschäftigen“. „Im übrigen dürfte
auch eine Halbierung der Arbeitszeit in der
Industrie auf lange Sicht nicht hinreichen, um
den Millionen brotlos werdender Arbeitskräf-
te Beschäftigung zu geben“ (S. 724/725).
Faszinierend ist auch, daß sich Kroll durch
seine historische Strukturanalyse freihält vom
modischen keynesianischen Bewältigungsop-
timismus der 50er und 60er Jahre. Nur für die
„geringfügigen Zwischenkrisen“ sei das key-
nesche Instrumentarium wirksam, für die
kommende große Krise im Gefolge der Ra-
tionalisierung gäbe Keynes keine Antwort.
Doch sind die weitsichtigen Analysen
Krolls, auch seine gerade angesichts aktueller
postindustrieller Visionen wichtiges utopi-
Die Stunde der Außenseiter
Nun - zu spät - begann das Umdenken in Poli-
tik und Wissenschaft; unter Papen und Schlei-
cher begann man mit die Grundelemente einer
krisenpolitischen Soforthilfe durch Formen
der produktiven Kreditschöpfung umzuset-
zen: Arbeitsbeschaffungswechsel, Steuergut-
scheine usw. Die „Verhältnisse“ begannen die
„Reformer“ Lautenbach, Wagemann, Dräger,
Friedländer-Prechtl, Nöll von der Nahmer zu
rehabilitieren. Das Unglück bestand dann
darin, daß die Nationalsozialisten dieses vor-
bestellte Feld ernten konnten.
Das Trauma des kollektiven krisenpoliti-
schen Lernprozesse dieser Jahre zu ver-
drängen. Verschärft wird dieser Hang zu Ver-
drängung - wissenssoziologisch gesehen -
durch eine spezifische Dialektik des „ortho-
doxen Denkens“: abgesehen von dem schon
beschriebenen Phänomen, daß orthodoxes
Denken dort, wo es zugleich hegemonial wie
realitätsfremd wird, innovatives Denken zu-
nächst intern blockiert und ins Außensei-
terisch-Sektierische abdrängt, kann man in
einer zweiten Phase oft ein verblüffend totales
Umkippen ins Gegenteil feststellen. Die ver-
unsicherte Orthodoxie wird Voluntarismus.
So wurden zahlreiche vormalige scharfe Kriti-
ker kreditpolitischer Experimente zu ihren un-
kritischsten Befürwortern in der Zeit nach
1933, am berühmtesten wohl der zweimalige
Reichsbankpräsident H. Schacht. Beides
aber - die vormalig totale Ablehnung wie die
spätere unvorsichtige Verabsolutierung - hat
der - bei den Reformern (beispielsweise Nöll
von der Nahmers) sorgfältig begründeten und
selbstkritisch eingeschränkten - Sache einer
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