Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Le Corbusier 
macht eine Probe- 
fahrt mit einem 
Balilla Spider in 
der Version 
Coppa d’Oro, 
1934 
Lingotto: Halle des fünften Stockwerks des Fabrikgebäudes mit 
einer Länge von 506,5 m, 1934 (aus: Pozzetto 1975) 
Werk des Futurismus in Italien“ (Michel 
Ragon in „Historie mondiale de V’architecture 
et de l’urbanisme modernes“) wurde auch vom 
italienischen Faschismus propagandistisch 
vereinnahmt. „In Italien“, so Marinetti, „wird 
der faschistische Stil u.a. von FIAT-Lingotto 
repräsentiert“. 
Aber Lingotto ist nicht nur gepriesener 
Tempel der modernen Architektur, „einer der 
bedeutendsten Industriebauten unseres Jahr- 
hunderts“ und der „größte Beitrag, den Italien 
zur modernen Architektur geleistet hat“ (so 
Pozzetto), sondern auch präziser Ausdruck 
historischer kapitalistischer Produktionsver- 
hältnisse. Die vertikale Stapelung der Pro- 
duktionsabschnitte war als Herausforderung 
an die amerikanische Automobilindustrie 
konzipiert, die innere Organisation - eine An- 
wendung des Taylor-Systems auf Italien - ist 
als Versuch der Erhöhung der Produktivität 
und der Disziplinierung der Arbeiter zu inter- 
pretieren. Auch die Lage entsprach voll den 
Erfordernissen der Produktion: Das Werk lag 
außerhalb der nicht rational organisierten 
historischen Stadt, aber direkt an der Quelle 
der modernen Produktion von Raum: an der 
Eisenbahn. 
Das Turin der Gründungsjahre von Lingot- 
to war auch das Turin des modernen 
Industrieproletariats, der Fabrikrätebewe- 
gung, der Aktivitäten Antonio Gramscis. Ins- 
besondere der politische Generalstreik im 
Jahre 1920 erschütterte das politisch-soziale 
Gleichgewicht der Stadt. Das Angebot.des aus 
der innerstädtischen Konkurrenz als Sieger 
hervorgegangenen FIAT-Werkes (Turin wur- 
de erst in diesen Jahren zur FIAT-Stadt) an 
die protestierenden Arbeiter war Lingotto: die 
Verheißung der grenzenlosen Ausdehnung der 
Produktion, die von einem ständig steigen- 
den Wohlstand der Massen begleitet wurde. 
Baulich wurde dieses Wachstumsversprechen 
am klarsten im ersten Entwurf für Lingotto 
organisiert, in dem Matte Trucco drei beliebig 
wiederhol- und erweiterbare Gebäudeeinhei- 
ten vorsah. Das Werk von Matte Trucco, so 
Tafuri/Dal Co in „Architektur der Gegen- 
wart“ (1977), schien daher auch „die Ankündi- 
gung der vom Faschismus geschaffenen 
’neuen Industrieordnung’ zu sein“. 
Die kapitalistische Weltmarktkonkurrenz 
war nicht nur der Geburtshelfer, sondern auch 
der Totengräber von Lingotto. Nach der 
Überzeugung der FIAT-Führung konnte die 
vertikale Organisiation der Produktion den 
neuen amerikanischen Methoden nicht mehr 
Paroli bieten. Die Konsequenz: die Vorberei- 
tung des Baus von FIAT-Mirafiori etwas 
weiter westlich von Lingotto. Der Bau von 
Mirafiori wurde bereits 1926 erwogen und 
nach einer Detroit-Reise von Agnelli (1934) 
im Jahre 1938 begonnen. Der neue, von 
Vittorio Bonade-Bottino projektierte Kom- 
plex in Flachbauweise organisierte den Pro- 
duktionsprozeß auf horizontaler Ebene, die 
Autoversuchsstrecke wurde neben den Hallen 
angelegt. Mirafiori ist heute mit nominal 
45.000 Beschäftigten das Stammwerk von 
FIAT und eine der größten Automobilpro- 
duktionsstätten der Welt überhaupt. Vor al- 
lem Mirafiori förderte die Expansion der 
Stadt nach Süden, wodurch Lingotto wie 
Mirafiori zu innerstädtischen Industrieflä- 
chen wurden. Lingotto selbst sollte schon in 
den 30er Jahren abgestoßen werden. Entspre- 
chende Verhandlungen mit der Stadt Turin, 
Militärbehörden, dem Polytechnikum und 
der Staatsbahn scheiterten allerdings. Lingot- 
to blieb eine - allerdings zweitrangige - Pro- 
duktionsstätte. Die (1980 rund 10.000) Be- 
schäftigten dieses Nebenwerkes konnten nur 
noch die Karosserien für bestimmte kleinere 
Autoserien zusammensetzen, die schweren 
Maschinen für weitergehende Produktions- 
vorgänge hat die Etagebauweise nicht mehr 
tragen können. 
Während die produktionstechnische Rück- 
ständigkeit von Lingotto für das FIAT-Mana- 
gement schon seit langem Anlaß war, über 
eine Aufgabe des Werkes zu diskutieren, d.h. 
die „Idee“ der Maschine der maschinellen 
Realität anzupassen, entwickelte sich der 
Standort von Lingotto immer mehr zu einem 
städtebaulichen „Filetstück“. Zusammen mit 
dem zum nicht ausgelasteten Turiner Haupt- 
bahnhof Porta Nuova führenden Eisenbahn- 
gelände und den ebenfalls unmittelbar an- 
grenzenden riesigen Flächen für die Zollgüter- 
abfertigung sowie die Lager und Markthallen 
(Mercati generali) bietet die Aufgabe der 
300.000 Quadratmeter umfassenden bisheri- 
gen Produktionsfläche von Lingotto die 
Chance einer städtebaulichen Neustruktu- 
rierung eines Areals von 2 Millionen Quadrat- 
meter, d.h. der gesamten, bis ins Zentrum 
hineinreichenden Südstadt. Bedenkt man, daß 
FIAT-Lingotto bei weitem nicht die einzige 
große industrielle Produktionsanlage Turins 
ist, die aufgelassen wird - Firmen wie Nebiolo, 
die CEAT und die Venchi Unica werden eben- 
falls geschlossen - dann stehen also gleichzei- 
tig mit der Vorlage eines Flächennutzungspla- 
nes, der von der These der Unmöglichkeit wei- 
terer baulicher Veränderungen innerhalb des 
Gesamtansicht der Dachpiste, 1923 (aus: Pozzetto 1975) 
Stadtgebietes ausgeht, 25% der Stadtfläche er- 
neut zur Disposition: genug Raum sicherlich, 
um die Verlagerung von Wohnungen und In- 
dustriebetrieben nach draußen zumindest 
noch einmal zu überdenken. 
Doch das setzt voraus, daß die zukünftige 
Nutzung dieser disponibel gewordenen Flä- 
chen und Industriegebäude geklärt wird. Tu- 
rin ist mit der Entscheidung FIAT’s auf eine 
industrielle Produktion im Werk Lingotto zu 
verzichten, endgültig vor die Problematik ge- 
stellt, über eine Transformation der Arbeiter- 
und Industriestadt nachzudenken. Weil der 
urbanistische Apparat der Stadtverwaltung 
mit seinen administrativ-technischen Pro- 
blemlösungsstrategien jedoch den Mytholo- 
gien der Turiner Industriekultur zu stark ver- 
haftet ist, und einen gesellschaftlichen Dis- 
kussionsprozeß mit dem Ziel einer Veudefini- 
tion sozialer Zielsetzungen für die Stadt nicht 
erlaubt, verordnet die Kommunalregierung 
den nächsten „geordneten urbanistischen 
Rückzug“: Sie bereitet einen großangelegten 
städtebaulichen Wettbewerb vor für die ge- 
samte Fläche von 2 Millionen Quadratme- 
tern, die vom Turiner Hauptbahnhof bis zur 
Via Ventimiglia im Süden reicht. 
An den Konditionen dieses Wettbewerbs 
arbeitet zur Zeit eine vom Bürgermeister ein- 
gesetzte Kommission. Daß man über deren 
Arbeitsweise bislang kaum etwas erfahren 
kann, liegt nicht nur an der städteplanerischen 
Ratlosigkeit der Kommune, sondern auch an 
FIAT und dem Versuch des Automobilkon- 
zerns über ein Gutachterverfahren, in dem ge- 
ladene Architekten Hypothesen für eine zu- 
künftige Nutzung des Lingotto-Gebäudes er- 
arbeiten sollen, den „Wert“ - der sich dann ba- 
nalerweise im von der Kommune an FIAT zu 
entrichtenden Verkaufspreis niederschlagen 
wird - neu (höher!) zu bestimmen. Die Liste 
der von FIAT-Chef Agnelli eingeladenen Ar- 
chitekten ist ebenso international wie illuster: 
Aulenti, Böhm, Fehling und Gogel, Gabetti, 
Gregotti, Halprin, Hollein, Johansen, Las- 
dun, R. Meier, Pellegrin, Pelli, G. Pesce, R. 
Piano, Roche, A.L. Rossi, Sartogo, Schein, 
Sottsass und Stirling. 
FIAT stellt den Gutachtern keine konkre- 
ten Bedingungen. Klar ist nur, daß die Archi- 
tekten sich einerseits mit der noch aus der 
Spätzeit des italienischen Faschismus stam- 
menden Idee einer Verlagerung des Bahnhofs 
nach Süden - z.B. auf das Lingottogebäu- 
de (?) - auseinandersetzen werden und daß sie 
andererseits über die Nutzung der ehemaligen 
Fabrik als Ort der Kultur, des Theaters und
	        
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