Le Corbusier
macht eine Probe-
fahrt mit einem
Balilla Spider in
der Version
Coppa d’Oro,
1934
Lingotto: Halle des fünften Stockwerks des Fabrikgebäudes mit
einer Länge von 506,5 m, 1934 (aus: Pozzetto 1975)
Werk des Futurismus in Italien“ (Michel
Ragon in „Historie mondiale de V’architecture
et de l’urbanisme modernes“) wurde auch vom
italienischen Faschismus propagandistisch
vereinnahmt. „In Italien“, so Marinetti, „wird
der faschistische Stil u.a. von FIAT-Lingotto
repräsentiert“.
Aber Lingotto ist nicht nur gepriesener
Tempel der modernen Architektur, „einer der
bedeutendsten Industriebauten unseres Jahr-
hunderts“ und der „größte Beitrag, den Italien
zur modernen Architektur geleistet hat“ (so
Pozzetto), sondern auch präziser Ausdruck
historischer kapitalistischer Produktionsver-
hältnisse. Die vertikale Stapelung der Pro-
duktionsabschnitte war als Herausforderung
an die amerikanische Automobilindustrie
konzipiert, die innere Organisation - eine An-
wendung des Taylor-Systems auf Italien - ist
als Versuch der Erhöhung der Produktivität
und der Disziplinierung der Arbeiter zu inter-
pretieren. Auch die Lage entsprach voll den
Erfordernissen der Produktion: Das Werk lag
außerhalb der nicht rational organisierten
historischen Stadt, aber direkt an der Quelle
der modernen Produktion von Raum: an der
Eisenbahn.
Das Turin der Gründungsjahre von Lingot-
to war auch das Turin des modernen
Industrieproletariats, der Fabrikrätebewe-
gung, der Aktivitäten Antonio Gramscis. Ins-
besondere der politische Generalstreik im
Jahre 1920 erschütterte das politisch-soziale
Gleichgewicht der Stadt. Das Angebot.des aus
der innerstädtischen Konkurrenz als Sieger
hervorgegangenen FIAT-Werkes (Turin wur-
de erst in diesen Jahren zur FIAT-Stadt) an
die protestierenden Arbeiter war Lingotto: die
Verheißung der grenzenlosen Ausdehnung der
Produktion, die von einem ständig steigen-
den Wohlstand der Massen begleitet wurde.
Baulich wurde dieses Wachstumsversprechen
am klarsten im ersten Entwurf für Lingotto
organisiert, in dem Matte Trucco drei beliebig
wiederhol- und erweiterbare Gebäudeeinhei-
ten vorsah. Das Werk von Matte Trucco, so
Tafuri/Dal Co in „Architektur der Gegen-
wart“ (1977), schien daher auch „die Ankündi-
gung der vom Faschismus geschaffenen
’neuen Industrieordnung’ zu sein“.
Die kapitalistische Weltmarktkonkurrenz
war nicht nur der Geburtshelfer, sondern auch
der Totengräber von Lingotto. Nach der
Überzeugung der FIAT-Führung konnte die
vertikale Organisiation der Produktion den
neuen amerikanischen Methoden nicht mehr
Paroli bieten. Die Konsequenz: die Vorberei-
tung des Baus von FIAT-Mirafiori etwas
weiter westlich von Lingotto. Der Bau von
Mirafiori wurde bereits 1926 erwogen und
nach einer Detroit-Reise von Agnelli (1934)
im Jahre 1938 begonnen. Der neue, von
Vittorio Bonade-Bottino projektierte Kom-
plex in Flachbauweise organisierte den Pro-
duktionsprozeß auf horizontaler Ebene, die
Autoversuchsstrecke wurde neben den Hallen
angelegt. Mirafiori ist heute mit nominal
45.000 Beschäftigten das Stammwerk von
FIAT und eine der größten Automobilpro-
duktionsstätten der Welt überhaupt. Vor al-
lem Mirafiori förderte die Expansion der
Stadt nach Süden, wodurch Lingotto wie
Mirafiori zu innerstädtischen Industrieflä-
chen wurden. Lingotto selbst sollte schon in
den 30er Jahren abgestoßen werden. Entspre-
chende Verhandlungen mit der Stadt Turin,
Militärbehörden, dem Polytechnikum und
der Staatsbahn scheiterten allerdings. Lingot-
to blieb eine - allerdings zweitrangige - Pro-
duktionsstätte. Die (1980 rund 10.000) Be-
schäftigten dieses Nebenwerkes konnten nur
noch die Karosserien für bestimmte kleinere
Autoserien zusammensetzen, die schweren
Maschinen für weitergehende Produktions-
vorgänge hat die Etagebauweise nicht mehr
tragen können.
Während die produktionstechnische Rück-
ständigkeit von Lingotto für das FIAT-Mana-
gement schon seit langem Anlaß war, über
eine Aufgabe des Werkes zu diskutieren, d.h.
die „Idee“ der Maschine der maschinellen
Realität anzupassen, entwickelte sich der
Standort von Lingotto immer mehr zu einem
städtebaulichen „Filetstück“. Zusammen mit
dem zum nicht ausgelasteten Turiner Haupt-
bahnhof Porta Nuova führenden Eisenbahn-
gelände und den ebenfalls unmittelbar an-
grenzenden riesigen Flächen für die Zollgüter-
abfertigung sowie die Lager und Markthallen
(Mercati generali) bietet die Aufgabe der
300.000 Quadratmeter umfassenden bisheri-
gen Produktionsfläche von Lingotto die
Chance einer städtebaulichen Neustruktu-
rierung eines Areals von 2 Millionen Quadrat-
meter, d.h. der gesamten, bis ins Zentrum
hineinreichenden Südstadt. Bedenkt man, daß
FIAT-Lingotto bei weitem nicht die einzige
große industrielle Produktionsanlage Turins
ist, die aufgelassen wird - Firmen wie Nebiolo,
die CEAT und die Venchi Unica werden eben-
falls geschlossen - dann stehen also gleichzei-
tig mit der Vorlage eines Flächennutzungspla-
nes, der von der These der Unmöglichkeit wei-
terer baulicher Veränderungen innerhalb des
Gesamtansicht der Dachpiste, 1923 (aus: Pozzetto 1975)
Stadtgebietes ausgeht, 25% der Stadtfläche er-
neut zur Disposition: genug Raum sicherlich,
um die Verlagerung von Wohnungen und In-
dustriebetrieben nach draußen zumindest
noch einmal zu überdenken.
Doch das setzt voraus, daß die zukünftige
Nutzung dieser disponibel gewordenen Flä-
chen und Industriegebäude geklärt wird. Tu-
rin ist mit der Entscheidung FIAT’s auf eine
industrielle Produktion im Werk Lingotto zu
verzichten, endgültig vor die Problematik ge-
stellt, über eine Transformation der Arbeiter-
und Industriestadt nachzudenken. Weil der
urbanistische Apparat der Stadtverwaltung
mit seinen administrativ-technischen Pro-
blemlösungsstrategien jedoch den Mytholo-
gien der Turiner Industriekultur zu stark ver-
haftet ist, und einen gesellschaftlichen Dis-
kussionsprozeß mit dem Ziel einer Veudefini-
tion sozialer Zielsetzungen für die Stadt nicht
erlaubt, verordnet die Kommunalregierung
den nächsten „geordneten urbanistischen
Rückzug“: Sie bereitet einen großangelegten
städtebaulichen Wettbewerb vor für die ge-
samte Fläche von 2 Millionen Quadratme-
tern, die vom Turiner Hauptbahnhof bis zur
Via Ventimiglia im Süden reicht.
An den Konditionen dieses Wettbewerbs
arbeitet zur Zeit eine vom Bürgermeister ein-
gesetzte Kommission. Daß man über deren
Arbeitsweise bislang kaum etwas erfahren
kann, liegt nicht nur an der städteplanerischen
Ratlosigkeit der Kommune, sondern auch an
FIAT und dem Versuch des Automobilkon-
zerns über ein Gutachterverfahren, in dem ge-
ladene Architekten Hypothesen für eine zu-
künftige Nutzung des Lingotto-Gebäudes er-
arbeiten sollen, den „Wert“ - der sich dann ba-
nalerweise im von der Kommune an FIAT zu
entrichtenden Verkaufspreis niederschlagen
wird - neu (höher!) zu bestimmen. Die Liste
der von FIAT-Chef Agnelli eingeladenen Ar-
chitekten ist ebenso international wie illuster:
Aulenti, Böhm, Fehling und Gogel, Gabetti,
Gregotti, Halprin, Hollein, Johansen, Las-
dun, R. Meier, Pellegrin, Pelli, G. Pesce, R.
Piano, Roche, A.L. Rossi, Sartogo, Schein,
Sottsass und Stirling.
FIAT stellt den Gutachtern keine konkre-
ten Bedingungen. Klar ist nur, daß die Archi-
tekten sich einerseits mit der noch aus der
Spätzeit des italienischen Faschismus stam-
menden Idee einer Verlagerung des Bahnhofs
nach Süden - z.B. auf das Lingottogebäu-
de (?) - auseinandersetzen werden und daß sie
andererseits über die Nutzung der ehemaligen
Fabrik als Ort der Kultur, des Theaters und