Lingotto: südliche gewendelte Rampe 1982 (Foto: Stimmann)
der Museen nachdenken werden. Eugenio
Battisti, Präsident der italienischen Vereini-
gung für Industriearchäologie, hat bereits vor-
geschlagen, das Gebäude unmittelbar nach
dem Verlassen durch den letzten Arbeiter ab-
zuschließen und es erst in 20 Jahren wieder zu
öffnen: Aus dem Dornröschenschlaf würde
dann die „sixtinische Kapelle der Industriege-
sellschaft“ zum Leben erweckt. Leider wurde
die Maschinenausrüstung des Werkes mittler-
weile bereits entfernt.
Mit etwas mehr Realismus verbunden
scheint die FIAT-Hypothese, im Werk von
Lingotto ein „Technologielaboratoium“ ein-
zurichten. FIAT befindet sich mit dieser Hy-
pothese in Übereinstimmung mit dem „Mo-
dernisierungsflügel“ der PCI und ihrem so-
zialistischen Koalitionspartner in der Stadtre-
gierung. Ziel der verstärkten technologischen
Anstrengungen soll die Überwindung der
Krise der tradierten Großindustriestrukturen
sein: Die „elektronische Modernisierung der
Volkswirtschaft“ soll dem Abbau der in-
dustriellen Arbeitsplätze entgegensteuern.
Der Dienstleistungssektor soll sich stärker
produktionsbezogen entwickeln, die neuen
Kommunikationstechnologien werden für
fähig gehalten, das stillstehende Wirtschafts-
wachstum wieder anzukurbeln. Das früheste
italienische Symbol eines industriellen Ar-
beitsprozesses soll durch seine neue Nutzung
zum Symbol des Übergangs in den Post-In-
dustrialismus werden. Dieser ganz unkritische
und gutgläubige Übergang von der industriel-
len zur elektronischen Fortschrittsgläubig-
keit hat auf der Ebene der regionalplaneri-
schen Innovation seinen Ausdruck bereits im
Projekt „MI-TO“ erhalten. Milano und Tori-
no sollen über großangelegte Verkehrs- und
Kommunikationsachsen stärker als bisher
verbunden werden, um so in einer gemeinsa-
men Kraftanstrengung und einer besseren
EG der jeweiligen Ressourcen die
Krise der Ökonomie zu überwinden. MiTo
steht auch für ein italienisches Wortspiel: Das
Verbundprojekt Mi-To ist ein „Mythos“ (ital.:
mito).
Diese offensichtliche Flucht vor einer wirk-
lichen Auseinandersetzung mit der sozialen
Realität Stadt ist nur eine Seite der Schwierig-
keiten der Turiner Stadtplaner im Umgang
mit der Krise der Industrie. Die planungsme-
thodische Defensive der Stadtverwaltung und
insbesondere des Stadtbaurates bildet die
andere.
Dabei war die neugewählte Linksregierung
Mitte der 70er Jahre mit ihren ersten städte-
Lingotto heute, links neben dem Hauptgebäude mit der Dachpiste das Verwaltungsgebäude (1919-21 erbaut)
(aus : Casabella 1982)
baulichen Reformschritten durchaus auf
einem erfolgreichen Weg. Im Zentrum der
Auseinandersetzung stand auch damals be-
reits FIAT. Der immer noch gültige Flächen-
nutzungsplan von 1958 hatte den Bau eines
riesigen neuen „Direktionszentrums“ : für
Management und produktionsbezogene
Dienstleistungseinrichtungen am Rande der
Innenstadt vorgesehen. FIAT wollte seine
zentralen Leitungseinrichtungen vom Corso
Marconi ursprünglich dorthin verlagern,
plante dann aber ab 1970 die Konzernspitze in
das Gebiet der Turiner Vorortgemeinde
Candiolo umzusiedeln. Die neue Linksre-
gierung hat nun erfolgreich versucht, diese
Standortwahl FIATSs zu revidieren; eine der-
artige Ausweitung des Agglomerationsraum
sollte nicht zugelassen werden. FIAT ist des-
halb eine Vereinbarung mit der Stadt einge-
gangen, derzufolge die Konzernleitung künf-
tig an drei Standorten dezentralisiert wird:
Der alte Hauptsitz am Corso Marconi wird
beibehalten, zusätzlich entstehen in halbperi-
pherer Lage zwei weitere FIAT-Standorte in
Borgo San- Paolo sowie am Flughafen in der
Gemeinde Colegno. FIAT bezahlt die „Urba-
nisierungskosten“ für diese Gebiete und stellt
der Kommune Turin Bodenflächen für die
Einrichtung von sozialen Dienstleistungen zur
Verfügung. Dieses Verhandlungsergebnis ist
in der Geschichte der Beziehung zwischen
Stadt und Konzern einmalig.
Die Kommune konnte dies erreichen, weil
sie zum einen sehr genau wußte, was ihr Ziel
war, zum anderen konnte FIAT diese Dezen-
tralisierung mit einer Reorganisation der in-
nerbetrieblichen Kommunikation in Einklang
bringen. Das Verhandlungsergebnis sicherte
die Kommune in entsprechenden Bebauungs-
plänen ab. Für die zukünftige Nutzung des
Lingotto-Geländes ist eine derartige präzise
Zielvorstellung jedoch nicht vorhanden. Der
den geänderten sozio-ökonomischen Rah-
menbedingungen völlig unangemessene Vor-
schlag für einen neuen Flächennutzungsplan
hat darüber hinaus die Schwächen des vor-
handenen Planungsinstrumentarismus einmal
mehr deutlich werden lassen. Es genügt nicht,
wie es im Planvorschlag heißt, den Plan als
„ein System von Beziehungen“, als ein System
von „Verhaltensregeln“ zu bezeichnen und ihn
gleichzeitig am „grünen Tisch“ entstehen zu
lassen.
Die Problematik, den sozialen Auseinan-
dersetzungsprozeß als Teil des Planungspro-
jektes zu verstehen, bei dem alle Interessen
miteinbezogen werden müssen, versucht die
Kommune nun über den „städtebaulichen
Wettbewerb“ zu lösen. Sie will damit die Ge-
fahr entgehen, Planung nur noch als Voll-
streckung eines zwischen den mächtigen In-
teressensvertretern ausgehandeltes Ergebnis-
ses zu praktizieren.
Der Wettbewerb erscheint so als verzwei-
felter Versuch, gegenüber den Pressionen der
eigentlichen Herren der Stadt (wie FIAT) die
Planungskompetenz der öffentlichen Hand
aufrechtzuerhalten. Die Idee der öffentlichen
Bestimmung der Entwicklung der Stadt - einer
der Grundsätze der „modernen“ Planung - ist
allerdings in der italienischen Planungskultur
längst nicht mehr unumstritten. Im Dezem-
ber-Heft 1982 von Casabella wird gefordert,
sich „ein für allemal“ von den sicher unzuläng-
lichen aktiven urbanistischen Eingriffsmög-
lichkeiten „zu befreien“ und auf „neue Instru-
mente“ wie die Verhandlungen mit den Herren
der Stadt zu setzen. Das „Planungs-Projekt“
wird damit auf ein „wichtiges Element einer
formalen Kontrolle. bereits anderswo abge-
sicherter ökonomischer und prozeduraler
Vorgänge“ reduziert. Mit einem solchen Ver-
fahren, so die postmoderne Planungslogik,
kann die Entwicklung zur postindustriellen
Stadt entchaotisiert werden. Noch ist diese fa-
tale Alternative nicht Realität. Ob den Turi-
ner Kommunisten die Idee eines „Städtebau-
lichen Wettbewerbs“, der die Diskussion über
den Sinn und Weg einer Transformation der
Arbeiterstadt nicht explizit mit einschließt,
wirklich hilft, die unzureichenden Planungs-
instrumente gegen die spitzen und pseudo-
pragmatischen Pfeile der postmodernen In-
krementalisten (man betrachte die Liste der
von FIAT eingeladenen Architekten) zu ver-
teidigen und zu verbessern, muß einstweilen
abgewartet werden.
Die in diesem Beitrag vermittelten Informationen und Einschät-
zungen sind u.a. Frucht einer Exkursion, die Mitarbeiter des In
stituts für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universi:
tät Berlin im Oktober 1982 nach Bologna, Turin und Neapel un-
ternommen haben. Ohne die Hinweise und Mitteilungen des
Turiner Architekten Stefano Hutter hätte der Artikel nicht ge-
schrieben werden können. Wir danken ihm dafür.
Folgende Literatur wurde für den Beitrag herangezogen:
Casabella dicembre 1982
Comune di Torino. Piano Regolatore Generale, Progetto
preliminare, März 1982
Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur (1922), Güters-
loh 1969
Pozzetto, Marco, La Fiat-Lingotto, Un’architettura torinese
d’avanguardia. Turin 1975
Radicioni, R. Riuso e riorganizzazione dell’assetto metropoli-
tano: Vlesperienza torinese. In: Celada u.a. Riuso urbano?
Programmi, Progetti, Interventi Pubblici. Mailand 1982
Ragon, Michel. Histoire mondiale de l’architecture et de
l’urbanisme modernes. Tournai 1972
Sica, Paolo. Storia dell’ urbanistica. III,2. 11 Novecento,
Bari 1978
Tafuri, Manfredo und Dal Co, Francesco, Architektur der Ge-
genwart. Stuttgart 1977