Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

„A 
Ingrid Krau 
Ein 
vs DIEDUE 
APFERE. 
S or nicht etert: 
Arbeitslos, 
ein 
Wohnungslos 
Vom schwierigen Aufbruch 
zu neuen Ufern 
1. Anlaß zum Nachdenken 
Räumliche Stadtentwicklungsplanung im 
Ruhrgebiet ist spätestens seit Mitte der 70er 
Jahre erneut vor den vorauseilenden Schat- 
ten struktureller und langanhaltender rezes- 
siver Arbeitslosigkeit diskutiert worden. Mir 
stellte sich in meinem Arbeitsfeld, dem mon- 
tanindustriellen Ballungskerngebiet Duis- 
burg, in den 70er Jahren folgende Frage: 
Ist es angesichts der allgemeinen histori- 
schen Tendenz stagnierender Expansions- 
kraft der traditionellen Großindustrie in den 
klassischen industriellen Ballungszentren der 
westlichen Welt und wachsender Flächenan- 
sprüche für Wohn- und Freizeitbedürfnisse 
noch sinnvoll, Wohngebiete zugungsten 
expansiver industrieller Standortsicherung 
und vorgeblicher Arbeitsplatzsicherung zu 
dezimieren und verschwinden zu lassen? 
Weder waren die von den einzelnen Indu- 
strien (Stahlindustrie, Kohleverwertung, 
petrochemie, Raffinerien, KEnergiewirt- 
schaft) geltend gemachten Expansions- und 
Sicherungsansprüche für die Region in der 
Summe verträglich — auch nach geltendem 
Recht nicht — noch war die sich damals deut- 
lich abzeichnende Gigantomanie der Stahlin- 
dustrie und des Petrobereichs an der Duis- 
burger Rheinschiene vorstellbar ohne ent- 
sprechende imperiale Strategien und Siege 
auf den EG- und Weltmärkten. 
Klar war: eine neue weltweite Arbeitstei- 
lung zugunsten der technologisch höchstent- 
wickelten, mehr vom avancierten human 
capital als von Rohstoffen abhängigen Indu- 
strien und zuungunsten der Rohstoffum- 
wandlung und -verformung in der 1. Welt 
würde das Ruhrgebiet und diesen Teilbe- 
reich besonders hart treffen. Andererseits 
war gerade deswegen eine rationalisierungs- 
orientierte räumliche Konzentration an der 
Rheinschiene nicht allein für die Stahlindu- 
strie ökonomisch sinnvoll. Steigende Pro- 
duktionsmengen an Roheisen wie Rohstahl 
schienen zu signalisieren, daß die Region 
trotz ihrer Monostruktur wirtschaftlich kern- 
gesund sei, man müsse nur den Ballungskern 
als Hauptkonfliktzone konkurrierender Flä- 
chenansprüche vom Überschuß an Arbeits- 
kräften und folglich Wohnbevölkerung 
befreien. Dies war keine aussprechbare aber 
desto schlagkräftigere Handlungsstrategie. 
Sie realisierte sich im Selbstlauf industrieller 
Daseinsvorsorge und planerischen Flanken- 
schutzes: die Grundstoffindustrie im Bal- 
lungskern, insbesondere die Stahlindustrie, 
mußte sich „übersteigerte” Ansprüche an 
Umweltschutzmaßnahmen vom Halse schaf- 
fen, mit der Reduzierung der Arbeitskräfte 
schien es möglich, den industrienahen 
Werkswohnungsbestand zugunsten von 
Trennzonen als produktionszugeordneten 
Flächen aufzugeben. 
Das Kalkül hatte schon in den 70er Jahren 
einige Schönheitsfehler: Wohnungsneubau 
an der Peripherie und im Umland ging auf- 
grund von steigenden Neubaumieten, stei- 
genden Benzinpreisen und stagnierenden 
Löhnen zurück. Wer die Wohnverhältnisse 
im traditionellen industriellen Ballungskern- 
gebiet kennt, konnte dennoch der Frage 
nicht ausweichen, ob sich nicht technischer 
Fortschritt hier radikal zugunsten des Baus 
neuer Wohn- und Lebensbereiche an der 
Peripherie und der Konzentration der Indu- 
strien im klassischen Ballungskern anwenden 
ließe. Meine Position des Grundrechts auf 
Bestandssicherung und Entwicklung der vor- 
handenen Wohnsiedlungsbereiche gegen- 
über den damaligen industriellen Expan- 
sionsansprüchen war vor allem aus der Ein- 
sicht in die bevorstehende ökonomische und 
soziale Entwicklung abgeleitet. Mir blieb 
trotzdem vorstellbar, daß die Bewohner 
einer Stadt sich zu ihren Bedürfnissen nach 
Verbesserung des Lebens bei materiell abge- 
sicherter Freiwilligkeit dynamisch verhalten 
können, wie es die Abwanderung der Besser- 
verdienenden ins Umland zeigt. 
Aber Veränderung unter welchen Bedin- 
gungen auch immer ist ein Durchsetzungsakt 
mit Protagonisten, die ihre Projektionen/ 
Leitbilder der besseren Welt aus der gelebten 
Erfahrung formulieren. Unter restriktiven 
Lebensverhältnissen verbindet sich mit 
Behausung der grundsätzliche Anspruch an 
Sicherheit. In der Krise heute nimmt dieses 
Grundrecht deutlicher Gestalt an: 
Eine Wohnbevölkerung gewinnt — selbst 
wenn sie von der Großindustrie in expansi- 
ven Aufschwungphasen mit der aussicht auf 
Arbeitsplätze und Existenzsicherung gerufen 
wurden — durch ihr vor Ort gelebtes Leben 
ihr existenzielles Selbstverständnis. Sie exi- 
stiert mit ihren Lebenszusammenhängen 
fort, wo der Sinnzusammenhang bisheriger 
Arbeitsstrukturen über Nacht verloren geht. 
Wo neueste und unter hohem Kapitaleinsatz 
erstellte Produktionsanlagen entwertet und 
in der Folge vernichtet werden, bleibt der 
Gebrauchswert der Wohnungen bestehen. 
Der Argumentationszusammenhang dreht 
sich um: wo vor kurzem noch richtig 
erschien, Wohngebiete zur Sicherung von 
Arbeitsplätzen zu beseitigen, erweist sich 
nun die Vernichtung von Arbeitsplätzen als 
völlig unabhängig von dieser Vorleistung, 
erweisen sich Menschen und ihre Behausun- 
gen als längerlebig. Und von ihnen her for- 
muliert sich die Nachfrage nach Arbeit — 
nicht umgekehrt * 
2. Eine Hand voll Beispiele 
In der expansiven Phase, als die bundesdeut- 
sche Stahlindustrie den europäischen Markt 
bereits in ihrer Tasche glaubte, wurden hier 
und da an den beengten Standorten des mon- 
tanindustriellen Ballungskerngebiets die stil- 
len Reserveflächen industrieller Expansion 
mobilisiert. Eine Reihe klassischer Werks- 
siedlungen unmittelbar vor den Toren der 
Produktionsstätten gelegen, wurde nur noch 
notdürftig instandgehalten und mit Auslän- 
dern belegt. Die Einebnung dieser Siedlun- 
gen erschien gegenüber einer teilweise mög- 
lichen Einebnung veralteter und nicht mehr 
genutzter Produktionsanlagen innerhalb der 
Werksgelände als der entschiedenere Schritt 
in die gewünschte Zukunft abgeschirmter 
großflächiger Produktionsareale. 
Dortmund — Hoerde 
Im Interesse der Hoesch Stahl AG wurde 
Ende der 70er Jahre die alte Werkssiedlung 
Felicitas des früheren Hoerder Hüttenver- 
eins von einem Immissionsschutzwall begra- 
ben. Hier wie anderswo war die Maßnahme 
politisch durchsetzbar, weil sich die der 
Hütte verbundenen Bewohner überzeugen 
ließen, daß letztenendes nur eine expandie- 
rende Industrie zukunftsorientierte Arbeits- 
plätze garantiere. 
Wenige Jahre später, als sich die Eurostra- 
tegie der Stahlindustrie als Fehlspekulation 
erwiesen hatte und Hoesch als erstes Opfer 
des Kapazitätsabbaus feststand, war die 
Hoerder Hütte als erste Streichung unstrit- 
tig. Der Immissionsschutzwall wird allein als 
Mahnmal zurückbleiben.
	        
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