Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Frau geht dann ins Haus - der Mann bringt 
den Müll weg und geht dann merklich 
schneller als beim Rausgehen in das Haus 
zurück. 
Eine ca. 40- bis 50jährige Frau kommt aus 
dem Haus mit einem Müllbeutel - geht mit 
eiligen Schritten auf den Müllcontainer zu, die 
an der Straße stehen - Sie schüttelt den Müll 
aus dem Beutel in den Container - schaut sich 
um - sammelt nun Blätter, die unter den 
Sträuchern liegen - steckt sie in den leeren 
Müllbeutel - ca. 10-15 Minuten lang, wobei sie 
den Beutel zwischendurch leert - dann wirft sie 
den Beutel samt Blättern in den Container und 
verschwindet im Haus. 
Der Sinn der Tätigkeiten liegt außerhalb 
der Notwendigkeit, den Müll wegzubringen: 
Der Gang zum Müll wird zum Anlaß, nach 
draußen zu kommen‘ und zur Chance, 
Kontakte zu haben. Der Wunsch nach 
Kontakten läßt sich aber nur über Alltags- 
tätigkeiten - sozusagen nebenbei - inszenieren 
und eröffnen, benötigt einen Vorwand zur 
Nutzung und Auskundschaftung des Wohn- 
standortes.!* Die Wahl des Ortes entspricht 
der Erfahrung, daß dort, wo das Kommen und 
Gehen stattfindet und sowohl die Straße als 
auch die Haustür im Blickfeld liegen, die 
Wahrscheinlichkeit, ins Gespräch zu kom- 
men, am größten ist. 
Außerhalb solcher Tätigkeiten treten Er- 
wachsene im Zusammenhang mit Kindern 
und Kinderspuren in Erscheinung. Die Kinder 
werden in der Siedlung dominant sichtbar. 
Die Spielorte konzentrieren sich auf zwei 
Bereiche: den Übergangsbereich zwischen 
Gebäuden und Straßenraum; und einen 
blockinternen Rückzugsbereich entlang einer 
bewachsenen Grenze. 
Liegen die Gebäude mit ’dem’ Gesicht zur 
Straße, so wird der ”Türbereich’ intensiver von 
Kindern besetzt als bei den Gebäuden, die 
senkrecht von der Straße weg aufgestellt sind. 
An den Spuren wird das sichtbar: Spielgerä- 
te, Dreirad, abgetretener Rasen, Zeichnungen 
am Haussockel, Stöckchen im Lichtschacht- 
gitter ... Bei unserem Beispiel begünstigt ein 
topografischer Zufall’ die Entstehung eines 
begrenzten Vorplatzes: Er wird durch eine 
Böschung vom Gehweg zum Haus eindeutig 
begrenzt. Drei Stufen führen in den abge- 
senkten Bereich. Die Schwelle vor der Tür 
führt mit einer Steigung ins Haus. Treppe, 
Böschung und Absenkung auf Eingangsni- 
veau organisieren diese Zone zum Haus und 
schränken den Öffentlichen Zugang ein. 
Kinder aus der Nachbarschaft kommen dazu. 
Die Straße wird intensiv in das Spiel 
einbezogen: Federball, Rollschuhlaufen, Kett- 
carfahren; aber Fußball steht an erster Stelle. 
Bei den zur Straße orientierten Blöcken 
haben die Haustürbereiche, die ’Vorgärten’, 
die Funktion von Spiel-/Beobachtungspo- 
sten, von denen aus die Straße kontrolliert 
und einbezogen wird und auf welche man sich 
wieder zurückziehen kann. 
Bei den senkrecht mit der Giebelwand zur 
Straße stehenden Zeilen fehlen diese Tür- 
bereiche. Hier sind deshalb die Müllplätze an 
den Wohnwegmündungen auf die Straße der 
wichtige ’Anhaltspunkt’, ebenso die fast 
fensterlosen (Schlafzimmer-)Giebelwände mit 
den Kelleraufgängen. Hier ist man geschützt 
und hat einen guten Überblick. Ebenso wie 
aus den Verstecken unter den Erdgeschoß- 
balkonen, dem Gebüsch an der Hausecke 
nebendran oder da, wo der fensterlose 
Kellersockel fast 2 m über den Boden ragt. 
Ein 3- bis 4jähriger Junge kommt aus dem 
Haus - bleibt eine Weile vor der Tür stehen - 
hält Ausschau - nichts zu sehen - zieht seine 
Handschuhe an - überlegt - schaut auf die 
andere Straßenseite - geht über die Straße an 
die Mülltonnen - klopft zwei- bis dreimal an 
die Eimer - geht wieder zurück an seine 
Haustür - zieht die Handschuhe aus und steckt 
sie in den Briefkasten - schlendert wieder über 
die Straße zu den Mülleimern - setzt sich 
davor - schaut umher - klopft mit einem Stein 
auf den Boden -steht wieder auf - schlendert in 
Richtung Zaun über den Rasen - blickt den 
Blättern nach, die vom Wind aufgewirbelt 
werden - tritt die Blätter mit dem Fuß in die 
Luft - verschwindet dann durch ein Loch im 
Zaun in den Büschen auf der anderen Seite ... 
Die Siedlung enthält ein Trampelpfadnetz, 
das diesen Zaun in der Mitte der Siedlung mit 
den Straßen verbindet. Der bewachsene Zaun 
ist das Resultat der Realisierung der Siedlung 
in zwei Abschnitten und auf zwei Grund- 
stücksparzellen. Aus grünplanerischer Sicht 
ist die dadurch entstehende Randbildung 
störend. Sie paßt nicht in das Konzept von 
’aufgelockerter Weite’. 
Parallel zum Zaun teilt eine 3 bis 4 m hohe 
langgezogene Böschung die Siedlung in zwei 
Teile. Diese Zone bildet einen blockinternen 
Rückzugsbereich, einen „Spiel- und Streif- 
raum“ (Muchow, M. und Muchow. H), wie 
wir ihn von Stadtrandlagen oder Siedlungs- 
rändern kennen. Der an mehreren Stellen 
durchbrochene oder heruntergedrückte Zaun 
(„unsere Hängematte“) ist als durchlässige 
Grenze konstutierend für seine Bedeutung als 
Treffpunkt, Schutz, Höhle („unser Haus“). 
Kletter- und Ausgangsort für Erkundungen. 
Die Erwachsenen benutzen diese Durchlässe 
und Trampelpfade mit, wenn auch selten, und 
meist auf das Kommen und Gehen reduziert. 
An der Siedlung und ihren Spuren der 
Nutzung ist besonders auffällig, daß überall 
dort, wo das planerische Programm unperfekt 
gemacht ist und ’Lücken’ entstehen, sich die 
Chance für Besetzungen - hier dominant 
durch Kinder - bietet; Freiräume entstehen - 
völlig gegen jede planerische Absicht. 
Im relativ intensiven Bild der Benutzung 
macht sich die Alterstruktur der Siedlung 
bemerkbar: die Dominanz von Familien mit 
Kindern. Das ’massive’ Auftreten von Kin- 
dern definiert einen Nutzungsanspruch, der 
sich nicht durch Kontrolle und Disziplinie- 
rung reduzieren läßt. Gleichzeitig ergibt sich 
dadurch auch für die Erwachsenen ein 
geringer, aber immerhin ein Spielraum, die 
von den Kindern gelegten Spuren in Anspruch 
zu nehmen und Anlässe zu haben. nach 
draußen zu kommen. 
Beispiel 2 
Gebaut wurde die Siedlung von 1956-1961, 
Herstellung des Wieder-wie-neu-Zustandes, 
sprich Modernisierung, von 1977-1982. Er- 
neuert wurden die Wege in Verbundsteinen, 
Balkone wurden angebaut, Fassaden reno- 
viert, Nachtspeicherheizung eingebaut - Er- 
höhung der Miete um 50%! Auch der Zustand 
draußen wurde verjüngt, ein gärtnerischer 
Pflegetrupp kappte 30 Jahre alte, hochge- 
wachsene Sträucher bis 10 cm über dem 
Boden. 
Was hat sich in 25 Jahren getan? 
Zwischen den Erschließungswegen und den 
Hauswänden fallen Blumenbeete auf, die 
offensichtlich von den Bewohnern angelegt 
und gepflegt werden. Je nach Platz zwischen 
Weg und Wand hat man /frau sich - jedes Jahr 
ein Stück mehr - ausgebreitet. Manche 
weichen seitlich aus, immer an der Wand lang 
und um die Ecke an die Giebelseiten. Über den 
Weg hinaus, in die Rasenfläche hinein geht es 
nicht; dafür ist die Distanz zu groß, die 
rückendeckende Hauswand fehlt, die Nach- 
barschaft zum unmittelbaren Zuständigkeits- 
bereich, der Wohnung. Der Anlaß fehlt, 
hinstellen und gucken reicht nicht aus. 
Da, wo in den letzten Jahren (Moderni- 
sierung) mit Balkonen diese Zone überstellt 
wurde und Gerüste standen, wurden die 
zaghaften Versuche nach draußen zu wohnen. 
d.h. zuständig sein, etwas verändern zu 
können, zunichte gemacht. 
Einige fangen von vorne an, andere haben 
es aufgegeben, wieder andere harken ab und 
zu vor der Tür Laub zusammen, um ’mal raus’ 
zu kommen. Wo die Eingänge mit den 
Balkonen zusammenliegen, hängt Frau L. 
gerade Wäsche auf, als ich mit dem Rad 
vorbeikomme. Mich als Fremden erkennend 
fragt sie, ob sie mir helfen kann. 
Frau S. arbeitet eine Haustür weiter in 
ihrem Vorgarten, an dem gerade die Nach- 
barin von obendrüber vorbeikommt. „Na, 
wieder fleißig?“ „Ja, die Zwiebeln fürs 
Frühjahr müssen in die Erde.“ Nur die Staude, 
die ihr Sohn aus Brasilien mitgebracht hat, 
„will hier nicht so recht wachsen.“ Er wird sie 
über Weihnachten wieder besuchen. 
An den Hausschuhen, dem Kittel und dem 
Hausschlüssel in der Hand ist die Nachbarin 
Frau K. von gegenüber erkennbar. Sie hat von 
ihrem Balkon Frau L. bei der Arbeit im 
Vorgarten entdeckt. Auf Zuruf: „Frau L., 
hören Sie mal ...“ ist es ihr möglich, über den 
Rasen zu ihr zu kommen. Die Frauen kennen 
sich schon eine Weile, sonst wäre der Abstand 
zwischen den Häusern zu groß. 
Frau trifft sich auf dem Weg zum Müll- 
container; oder am Laden in der Siedlung. 
Bevor er um drei Uhr öffnet, stehen hier schon 
mehrere Kundinnen, so hat frau noch Zeit 
zum Plausch. Was mit der Nachbarin von 
nebenan vor der Haustür nicht mehr möglich 
ist aufgrund fehlender Anlässe, findet vor und 
im Laden statt. 
Die Beete als Wunsch, etwas zu tun und als 
Anlaß zur Kontaktaufnahme zeigen die Not, 
das Fehlen einer persönlich/privat verfüg- 
baren Basis im Außenraum. 
Die Realisierung der Beete und die ’Schein- 
tätigkeiten’ zeigen, daß die Norm dessen, was 
man sich in solchen Verhältnissen erlaubt zu 
tun, extern definiert ist - von der Baugesell- 
schaft und dem gärtnerischen Standard 
abhängt. Die Vorgartenpflege ist von der 
Baugesellschaft nicht akzeptiert aber wenig- 
stens geduldet, weil sie das ’schöne Bild’ der 
Gesamtanlage nicht stört. Man macht also 
eine Arbeit, die ins Bild paßt. Sie fällt nicht ins 
Gewicht und nich? aus dem Rahmen. 
Ärger gibt es mit den Kindern der Bundes- 
wehrsiedlung gegenüber; „Wenn die jungen 
Offiziersfrauen mittags ihre Ruhe haben 
wollen, schicken sie uns ihre Bälger auf den 
Hals. Die machen uns ja so schon genug 
kaputt; Blumen abknicken, Dreck an die 
Fenster oder Beeren ins Schlafzimmer schmei- 
ßen - als Rache, wenn ich denen mal sage, sie 
sollen ruhiger sein, oder dahingehen, wo sie 
herkommen.“ „Früher haben unsere Kinder 
auch immer da gespielt; sie durften es zwar 
auch nicht, immer wenn der Hausmeister 
(Siedlungsmeister) auftauchte, verschwanden 
sie kurz, bis er wieder weg war. Da hat uns das 
auch nicht soviel ausgemacht, irgendwo 
müssen sie ja spielen. Aber heute ist man das 
einfach nicht mehr gewöhnt; man wird ja auch 
empfindlicher im Alter.“ 
Daß sich Empfindlichkeiten insbesondere 
auf fremde Kinder beziehen, zeigt folgende 
Schilderung: „Wenn meine sechs Enkelkinder 
zu Besuch sind, so an Geburtstagen oder 
Weihnachten, spielen sie auch immer da 
draußen. Wir hatten schon überlegt, ob wir 
nicht in den zweiten Stock ziehen sollten, wo 
wir doch jetzt keine Kinder mehr haben, aber 
meine Enkel tragen oft Holzlatschen, und das 
würde im Treppenhaus viel Lärm geben und 
Ärger mit den Nachbarn.“ 
Das eigene Verhalten Nachbarn gegenüber 
ist angepaßt an die eigene Empfindlichkeit 
Fremden gegenüber. Eine Hausordnung ist 
nicht mehr notwendig, die baulichen Vor- 
gaben veranlassen die Bewohner, ihre Bedürf- 
nisse den Verhältnissen und nicht die Verhält- 
nisse ihren Bedürfnissen anzupassen. !5
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.