Auf den durch ’Rückseiten’ gebildeten Zwi-
schenräumen ist das gleiche Phänomen wie
auf den Eingangsseiten zu beobachten. .Wo
Aus/Eingänge mit Balkonen kombiniert sind,
ist im Erdgeschoß die Besetzung des vorge-
lagerten Bereichs mit Beeten häufiger und
intensiver. Gebäudefassaden mit Nur-Ein-
oder Ausgängen oder Nur-Balkonen weisen
weniger Spuren des Gebrauchs auf, wo die
Zugänglichkeit durch offizielle Erschließungs-
wege nicht gegeben ist, wird der Schritt nach
draußen schwieriger, der Blick aus dem
Fenster wird immer seltener, weil nichts
passiert, die Ausstattung ist nach 25 Jahren
die gleiche: hier ein Baum, da ein Strauch, in
der Mitte Wäschestangen, in allen Zwischen-
räumen immer am gleichen Ort, immer
dieselbe Farbe, nur ab und zu hängt Wäsche.
Im Süden wird die Siedlung mit einem z.T.
dicht bewachsenen Zaun von der Bundes-
wehrsiedlung massiv abgegrenzt. Dieser Rand
ist Rückzugs- und Übergangsbereich für die
Kinder beider Siedlungen. Der Zaun ist in den
von .Gehölzbewuchs geschützten Bereichen
durchbrochen. Bäume sind Ausguck und
Kletterhilfe beim Überqueren der Grenze,
Sträucher bieten Nester zum Verstecken.
Begünstigt durch diesen dichten Rand hat
sich am Ende einer Zeile ein räumlicher
Abschluß ergeben. Eine Fläche von 10x10 m
wird vom Gehölzstreifen von zwei Seiten und
von der Gebäuderückseite mit Balkonen und
Kellerausgängen als dritte Seite begrenzt.
Durch die ausschließliche Zugänglichkeit vom
Keller des Hauses aus ist es für jeden klar, daß
Fremde dort nichts zu suchen haben, der
Zugang ist auf der anderen Seite. Entspre-
chend ist die Kontrolle in diesem ’Garten’. Ich
wurde offen hinter zur Seite gezogener
Gardine beobachtet, ich fühlte mich als Ein-
dringling. Die Ausstattung dieser Fläche
machte es mir sehr deutlich, wer hier zuständig
ist. Neben dem runden Holztisch mit Holz-
hockern steht die Agave im Blumentopf, die
ersten selbst angepflanzten Coniferen, das
Gärtnerwerkzeug, Gießkanne und Rasen-
mäher stehen bereit, den Rasen mähen sie in
eigener Regie, Blumentöpfe von der Fenster-
bank werden rausgestellt, der Kompost ist
auch vorhanden. Die zufällige Kleinräumlich-
keit und die Begrenzungen einschließlich des
Baumdaches bieten die Voraussetzungen für
diese Art der erprobten und abgesprochenen
Besetzung durch die Bewohner des Hauses.
Auch hier ergab sich durch unbeabsichtigte,
günstige ’Rahmen’bedingungen die Chance
der Besetzung. An dieser Stelle war das
’Randphänomen’ so ausgeprägt, daß die
Gelegenheit, sich auszubreiten, auch produk-
tiv genutzt werden konnte.
Vor 15 Jahren gab es in dieser Siedlung
ebenso viel Kinder wie in unserer ersten
Siedlung. In 15 Jahren wird diese wohl so
ähnlich aussehen: die Altersgruppen ab 50
Jahre sind überproportional vertreten. Dann
wird auch dort der Anteil an Spuren weniger,
die durch das Sich-nicht-disziplinieren-lassen
der Kinder entstanden sind.
In den beiden Siedlungen kommen die
dominierenden Altersstufen der Bewohner-
schaft zum Ausdruck: in der einen die jungen
Familien, in der anderen die Überalterung.
Was beiden fehlt, ist der private Freiraum als
Instrument’, häusliche Entlastung und Ergän-
zung zu produzieren.
Für die jungen Familien hat der private
Freiraum eine andere Bedeutung und Aus-
stattung für die Subsistenz des Lebens als für
die älteren Leute, bei denen die an feste Zeiten
gebundenen Tätigkeiten und Notwendigkei-
ten geringer sind: das Stück zum Pflegen, ein
Platz zum Werkeln und all die Dinge, die Spaß
machen und Sinn haben.
Hat der Wohnungsbau Angst vor dem Bauen
der Bewohner?
Der Wunsch der Planer, die Bewohner sollten
draußen im grünen ’Hof’ spazierengehen oder
ihre Freizeit beschaulich und erholsam ver-
bringen, erfüllt sich nicht. Wir müssen fest-
stellen, daß die Bewohner, wenn sie überhaupt
rausgehen, draußen ’arbeiten’. Sie tun etwas
oder besser, sie möchten etwas tun. Wohnen
heißt etwas tun; Wohnen ist produktiv;
Wohnen heißt bauen. „Wo nicht gebaut wird
im weitesten Sinne, wird nicht gewohnt ... In
Wohnumweltsituationen, in denen wir keine
individuell verursachten materialen Spuren
persönlichen Verhaltens auffinden können,
wird nicht gewohnt.“!6 In unseren beiden
Siedlungen wird in diesem Sinne wenig
gewohnt. Der Lebensort hat deshalb keine
Chance zu altern, sich zu entwickeln, er läßt so
gut wie keine Verfügungen und Aneignungen
ZU.
Das Interesse und die Notwendigkeit einer
kontinuierlichen Aneignung des Außenraums
kommt in der Besetzung der zufälligen Lücken
und Zugänglichkeiten der strukturellen und
materiellen Siedlungsorganisation zum Aus-
druck. Aber dies stößt sehr schnell an die von
’oben’ kontrollierten Grenzen. Und das, was
realisiert werden kann (z.B. Beete), entspricht
der und übernimmt nur die ’Pflegearbeit’, paßt
sich in nicht angreifbare Verhältnisse ein.
Die Hausordnungen sind längst verinner-
licht. Die Beschränkungen werden bereits von
selbst auferlegt, durch Selbstzensur vorweg-
genommen. Die Kontrolle verlagert sich von
’außen’ nach ’innen’.
Die materielle Umwelt ist als Raum privater
Autonomie und als Hilfe für die Bewältigung
von Alltagstätigkeiten - für die Entlastung des
Haushaltes durch Eigenarbeit - ebenso
entwertet, wie als Ort und Gelegenheit
informeller und sozialer Kontakte, Hilfen,
Absprachen, Übereinkünfte und Akzeptan-
zen. Wenn man den Leuten die Möglichkeit
nimmt, sich ’häuslich niederzulassen’, nimmt
man ihnen die Chance, ihre eigenen Alltage
selbst zu organisieren und zu kontrollieren,
kann der Lebensort nicht altern.
„Die Reproduktion der unmittelbaren
Lebensbasis ist für Menschen ’naturbedingt’
von zentraler Bedeutung, und somit auch die
Abhängigkeit in diesem Bereich. Es ist von
fundamentalem Unterschied für die Betroffe-
nen, ob diese Lebensbasis nur in Ungewiß-
heit, Mühe, Furcht und im Kampf gegen
andere gesichsert werden kann oder in der
befriedeten Sicherheit und Solidarität mit
anderen Menschen“ (O. Ullrich, 1979:157).
Der wohnbaugesellschaftsorientierte und
durch staatliche Förderprogramme hofierte
Wohnungsbau verstärkt die Abhängigkeit.
’Undurchsichtige Konstellationen’, wie sie als
Stellvertreter der Herrschaft mediatisiert
durch Hausordnungen, Hausmeister und
Hausverwaltungen in Erscheinung treten,
verschärfen die Unsicherheit. Die mit der
Wohnung erfundene Funktionstrennung des
„vollständigen“ Hausens in „Haus und Hof“,
in „Innenhaus und Außenhaus“ (1.M. Hül-
busch 1878/81), in Wohnung und Grünfläche
wird dem Kontrollinteresse der Verfügungs-
gewalt gerecht.
Die Grünplanung ist diesem Anspruch mit
landschaftsgärtnerischen Mitteln nachgekom-
men: sie lieferte bedenkenlos die Dekoration,
die Verpackung für die Ware „Wohnung“ (vgl.
Wawzyn, L. und Kramers, D. 1974) und trug
damit einen weiteren Baustein zur Entwertung
des alltäglichen Lebensraums bei.!7
Anmerkungen:
Dieser Aufsatz basiert auf zwei Diplomarbeiten, die im
WS 1982/83 am FB Stadtplanung, Landschaftsplanung
der Gesamthochschule Kassel von L. Hörnlein und P. Rau
erstellt und von H. Böse und K.H. Hülbusch betreut
wurden.
1) Rimpl, H.: 1953, Die geistigen Grundlagen der Bau-
kunst unserer Zeit, S.148.
2) Le Corbusier, zit. in: Vereinigung Deutscher Gewässer-
schutz (Hrsg.). Grün und Wasser in der Stadt, 1957,
S. 94.
3) Düttmann, B.: 1957, Wohnwege und öffentliche Grün-
flächen in der neuen Wohnsiedlung - Erfahrungen
und Forderungen, München, 5.2.
Lendholt, W.: 1975, Die Bedeutung städtischer Frei-
räume, in: Akademie für Raumforschung und Landes-
planung (Hrsg.): Städtisches Grün in Geschichte und
Gegenwart, Hannover, S. 82.
Hillebrecht, R.: 1951, Gärten und Grünflächen beim
Aufbau unserer Städte, in: Amtlicher Katalog: Erste
Bundesgartenschau, Hannover 1951, Hannover, S.69.
Möllendorff, W.v.: 1953, Lebendiges Bauen, Tübingen,
S.21.
Lendholt, W., a.a.0., 5.87.
Bericht über die Jahrestagung der Deutschen Gesell-
schaft für Gärten - Kunst und Landschaftspflege vom
27. - 30.6.62 in Mainz, in: Garten und Landschaft,
Heft 8, 1962, S.235.
9) Siehe dazu: Turner, J.F.C.: Verelendung durch Archi-
tektur, Reinbek bei Hamburg, 5.89.
10) Gronemeyer, M.: 1977, Denn sie wissen nicht, was sie
wollen, in: Gronemeyer/Bahr (Hrsg.): Nachbarschaft
im Neubaublock, Weinheim und Basel, S.189.
'1) Im Bruttosozialprodukt werden diese Gruppen nur
als Konsumenten bzw. Verausgaber ökonomisch pro-
duktiv erwirtschafteter Einkommen berücksichtigt.
Siehe dazu auch: Hülbusch, I.M.: 1978, Innenhaus
und Außenhaus, Kassel, S.14ff.
Vergl. Turner, J.F.C.: a.a.O., 5.81.
Schiller, H.: 1958, Gartengestaltung, Berlin und
Hamburg, S.210.
Vergl. Heinemann, G.'und Pommerening, K.« 1979,
Struktur und Nutzung dysfunktionaler Freiräume,
Kassel, 5.25.
Vergl. Gronemeyer, M.: a.a.0.
Zimmermann, J.: 1978, Wohnverhalten und Wohn-
umwelt (Schriftenreihe des Bundesministers für
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, 04.044,
Bonn, S.19).
Hülbusch, K.H.: 1981, Stadtgrün, ohne Stadtgärtner,
in: Europäische Kampagne zur Stadterneuerung 1981,
Freiheit macht Stadt! Darmstadt /Bonn, 5.66.
5)
2)
ei
14)
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