Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Auf den durch ’Rückseiten’ gebildeten Zwi- 
schenräumen ist das gleiche Phänomen wie 
auf den Eingangsseiten zu beobachten. .Wo 
Aus/Eingänge mit Balkonen kombiniert sind, 
ist im Erdgeschoß die Besetzung des vorge- 
lagerten Bereichs mit Beeten häufiger und 
intensiver. Gebäudefassaden mit Nur-Ein- 
oder Ausgängen oder Nur-Balkonen weisen 
weniger Spuren des Gebrauchs auf, wo die 
Zugänglichkeit durch offizielle Erschließungs- 
wege nicht gegeben ist, wird der Schritt nach 
draußen schwieriger, der Blick aus dem 
Fenster wird immer seltener, weil nichts 
passiert, die Ausstattung ist nach 25 Jahren 
die gleiche: hier ein Baum, da ein Strauch, in 
der Mitte Wäschestangen, in allen Zwischen- 
räumen immer am gleichen Ort, immer 
dieselbe Farbe, nur ab und zu hängt Wäsche. 
Im Süden wird die Siedlung mit einem z.T. 
dicht bewachsenen Zaun von der Bundes- 
wehrsiedlung massiv abgegrenzt. Dieser Rand 
ist Rückzugs- und Übergangsbereich für die 
Kinder beider Siedlungen. Der Zaun ist in den 
von .Gehölzbewuchs geschützten Bereichen 
durchbrochen. Bäume sind Ausguck und 
Kletterhilfe beim Überqueren der Grenze, 
Sträucher bieten Nester zum Verstecken. 
Begünstigt durch diesen dichten Rand hat 
sich am Ende einer Zeile ein räumlicher 
Abschluß ergeben. Eine Fläche von 10x10 m 
wird vom Gehölzstreifen von zwei Seiten und 
von der Gebäuderückseite mit Balkonen und 
Kellerausgängen als dritte Seite begrenzt. 
Durch die ausschließliche Zugänglichkeit vom 
Keller des Hauses aus ist es für jeden klar, daß 
Fremde dort nichts zu suchen haben, der 
Zugang ist auf der anderen Seite. Entspre- 
chend ist die Kontrolle in diesem ’Garten’. Ich 
wurde offen hinter zur Seite gezogener 
Gardine beobachtet, ich fühlte mich als Ein- 
dringling. Die Ausstattung dieser Fläche 
machte es mir sehr deutlich, wer hier zuständig 
ist. Neben dem runden Holztisch mit Holz- 
hockern steht die Agave im Blumentopf, die 
ersten selbst angepflanzten Coniferen, das 
Gärtnerwerkzeug, Gießkanne und Rasen- 
mäher stehen bereit, den Rasen mähen sie in 
eigener Regie, Blumentöpfe von der Fenster- 
bank werden rausgestellt, der Kompost ist 
auch vorhanden. Die zufällige Kleinräumlich- 
keit und die Begrenzungen einschließlich des 
Baumdaches bieten die Voraussetzungen für 
diese Art der erprobten und abgesprochenen 
Besetzung durch die Bewohner des Hauses. 
Auch hier ergab sich durch unbeabsichtigte, 
günstige ’Rahmen’bedingungen die Chance 
der Besetzung. An dieser Stelle war das 
’Randphänomen’ so ausgeprägt, daß die 
Gelegenheit, sich auszubreiten, auch produk- 
tiv genutzt werden konnte. 
Vor 15 Jahren gab es in dieser Siedlung 
ebenso viel Kinder wie in unserer ersten 
Siedlung. In 15 Jahren wird diese wohl so 
ähnlich aussehen: die Altersgruppen ab 50 
Jahre sind überproportional vertreten. Dann 
wird auch dort der Anteil an Spuren weniger, 
die durch das Sich-nicht-disziplinieren-lassen 
der Kinder entstanden sind. 
In den beiden Siedlungen kommen die 
dominierenden Altersstufen der Bewohner- 
schaft zum Ausdruck: in der einen die jungen 
Familien, in der anderen die Überalterung. 
Was beiden fehlt, ist der private Freiraum als 
Instrument’, häusliche Entlastung und Ergän- 
zung zu produzieren. 
Für die jungen Familien hat der private 
Freiraum eine andere Bedeutung und Aus- 
stattung für die Subsistenz des Lebens als für 
die älteren Leute, bei denen die an feste Zeiten 
gebundenen Tätigkeiten und Notwendigkei- 
ten geringer sind: das Stück zum Pflegen, ein 
Platz zum Werkeln und all die Dinge, die Spaß 
machen und Sinn haben. 
Hat der Wohnungsbau Angst vor dem Bauen 
der Bewohner? 
Der Wunsch der Planer, die Bewohner sollten 
draußen im grünen ’Hof’ spazierengehen oder 
ihre Freizeit beschaulich und erholsam ver- 
bringen, erfüllt sich nicht. Wir müssen fest- 
stellen, daß die Bewohner, wenn sie überhaupt 
rausgehen, draußen ’arbeiten’. Sie tun etwas 
oder besser, sie möchten etwas tun. Wohnen 
heißt etwas tun; Wohnen ist produktiv; 
Wohnen heißt bauen. „Wo nicht gebaut wird 
im weitesten Sinne, wird nicht gewohnt ... In 
Wohnumweltsituationen, in denen wir keine 
individuell verursachten materialen Spuren 
persönlichen Verhaltens auffinden können, 
wird nicht gewohnt.“!6 In unseren beiden 
Siedlungen wird in diesem Sinne wenig 
gewohnt. Der Lebensort hat deshalb keine 
Chance zu altern, sich zu entwickeln, er läßt so 
gut wie keine Verfügungen und Aneignungen 
ZU. 
Das Interesse und die Notwendigkeit einer 
kontinuierlichen Aneignung des Außenraums 
kommt in der Besetzung der zufälligen Lücken 
und Zugänglichkeiten der strukturellen und 
materiellen Siedlungsorganisation zum Aus- 
druck. Aber dies stößt sehr schnell an die von 
’oben’ kontrollierten Grenzen. Und das, was 
realisiert werden kann (z.B. Beete), entspricht 
der und übernimmt nur die ’Pflegearbeit’, paßt 
sich in nicht angreifbare Verhältnisse ein. 
Die Hausordnungen sind längst verinner- 
licht. Die Beschränkungen werden bereits von 
selbst auferlegt, durch Selbstzensur vorweg- 
genommen. Die Kontrolle verlagert sich von 
’außen’ nach ’innen’. 
Die materielle Umwelt ist als Raum privater 
Autonomie und als Hilfe für die Bewältigung 
von Alltagstätigkeiten - für die Entlastung des 
Haushaltes durch Eigenarbeit - ebenso 
entwertet, wie als Ort und Gelegenheit 
informeller und sozialer Kontakte, Hilfen, 
Absprachen, Übereinkünfte und Akzeptan- 
zen. Wenn man den Leuten die Möglichkeit 
nimmt, sich ’häuslich niederzulassen’, nimmt 
man ihnen die Chance, ihre eigenen Alltage 
selbst zu organisieren und zu kontrollieren, 
kann der Lebensort nicht altern. 
„Die Reproduktion der unmittelbaren 
Lebensbasis ist für Menschen ’naturbedingt’ 
von zentraler Bedeutung, und somit auch die 
Abhängigkeit in diesem Bereich. Es ist von 
fundamentalem Unterschied für die Betroffe- 
nen, ob diese Lebensbasis nur in Ungewiß- 
heit, Mühe, Furcht und im Kampf gegen 
andere gesichsert werden kann oder in der 
befriedeten Sicherheit und Solidarität mit 
anderen Menschen“ (O. Ullrich, 1979:157). 
Der wohnbaugesellschaftsorientierte und 
durch staatliche Förderprogramme hofierte 
Wohnungsbau verstärkt die Abhängigkeit. 
’Undurchsichtige Konstellationen’, wie sie als 
Stellvertreter der Herrschaft mediatisiert 
durch Hausordnungen, Hausmeister und 
Hausverwaltungen in Erscheinung treten, 
verschärfen die Unsicherheit. Die mit der 
Wohnung erfundene Funktionstrennung des 
„vollständigen“ Hausens in „Haus und Hof“, 
in „Innenhaus und Außenhaus“ (1.M. Hül- 
busch 1878/81), in Wohnung und Grünfläche 
wird dem Kontrollinteresse der Verfügungs- 
gewalt gerecht. 
Die Grünplanung ist diesem Anspruch mit 
landschaftsgärtnerischen Mitteln nachgekom- 
men: sie lieferte bedenkenlos die Dekoration, 
die Verpackung für die Ware „Wohnung“ (vgl. 
Wawzyn, L. und Kramers, D. 1974) und trug 
damit einen weiteren Baustein zur Entwertung 
des alltäglichen Lebensraums bei.!7 
Anmerkungen: 
Dieser Aufsatz basiert auf zwei Diplomarbeiten, die im 
WS 1982/83 am FB Stadtplanung, Landschaftsplanung 
der Gesamthochschule Kassel von L. Hörnlein und P. Rau 
erstellt und von H. Böse und K.H. Hülbusch betreut 
wurden. 
1) Rimpl, H.: 1953, Die geistigen Grundlagen der Bau- 
kunst unserer Zeit, S.148. 
2) Le Corbusier, zit. in: Vereinigung Deutscher Gewässer- 
schutz (Hrsg.). Grün und Wasser in der Stadt, 1957, 
S. 94. 
3) Düttmann, B.: 1957, Wohnwege und öffentliche Grün- 
flächen in der neuen Wohnsiedlung - Erfahrungen 
und Forderungen, München, 5.2. 
Lendholt, W.: 1975, Die Bedeutung städtischer Frei- 
räume, in: Akademie für Raumforschung und Landes- 
planung (Hrsg.): Städtisches Grün in Geschichte und 
Gegenwart, Hannover, S. 82. 
Hillebrecht, R.: 1951, Gärten und Grünflächen beim 
Aufbau unserer Städte, in: Amtlicher Katalog: Erste 
Bundesgartenschau, Hannover 1951, Hannover, S.69. 
Möllendorff, W.v.: 1953, Lebendiges Bauen, Tübingen, 
S.21. 
Lendholt, W., a.a.0., 5.87. 
Bericht über die Jahrestagung der Deutschen Gesell- 
schaft für Gärten - Kunst und Landschaftspflege vom 
27. - 30.6.62 in Mainz, in: Garten und Landschaft, 
Heft 8, 1962, S.235. 
9) Siehe dazu: Turner, J.F.C.: Verelendung durch Archi- 
tektur, Reinbek bei Hamburg, 5.89. 
10) Gronemeyer, M.: 1977, Denn sie wissen nicht, was sie 
wollen, in: Gronemeyer/Bahr (Hrsg.): Nachbarschaft 
im Neubaublock, Weinheim und Basel, S.189. 
'1) Im Bruttosozialprodukt werden diese Gruppen nur 
als Konsumenten bzw. Verausgaber ökonomisch pro- 
duktiv erwirtschafteter Einkommen berücksichtigt. 
Siehe dazu auch: Hülbusch, I.M.: 1978, Innenhaus 
und Außenhaus, Kassel, S.14ff. 
Vergl. Turner, J.F.C.: a.a.O., 5.81. 
Schiller, H.: 1958, Gartengestaltung, Berlin und 
Hamburg, S.210. 
Vergl. Heinemann, G.'und Pommerening, K.« 1979, 
Struktur und Nutzung dysfunktionaler Freiräume, 
Kassel, 5.25. 
Vergl. Gronemeyer, M.: a.a.0. 
Zimmermann, J.: 1978, Wohnverhalten und Wohn- 
umwelt (Schriftenreihe des Bundesministers für 
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, 04.044, 
Bonn, S.19). 
Hülbusch, K.H.: 1981, Stadtgrün, ohne Stadtgärtner, 
in: Europäische Kampagne zur Stadterneuerung 1981, 
Freiheit macht Stadt! Darmstadt /Bonn, 5.66. 
5) 
2) 
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14) 
23
	        

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