Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Der folgende Beitrag ist dem Buch „Raum für 
soziales Leben“ von Marc Fester, Sabine 
Kraft und Elke Metzner entnommen. Es han- 
delt sich dabei um die Zusammenstellung ein- 
zelner, gekürzter Textpassagen aus mehreren 
Kapiteln. Das Buch ist 1983 im Verlag C.F 
Müller. Karlsruhe. erschienen 
Marc Fester, Sabine Kraft 
Raum für soziales Leben 
Die Sprache des Raums 
Im Mittelpunkt soll die Frage nach der so- 
zialen Gebrauchsfähigkeit des Raums stehen: 
Wie muß die alltägliche städtische Wohnum- 
welt beschaffen sein, damit sie vielfältigen 
Nutzungsweisen „Raum gibt“ und sich nicht 
gegen den Gebrauch sperrt, daß sie Verhal- 
tensspielräume eröffnet und nicht verschließt? 
Auf diese Fragen gibt es heute keine selbst- 
verständlichen Antworten - nicht mehr, seit- 
dem die Moderne gegenüber dem traditionel- 
len Städtebau und den überkommenen sozial- 
räumlichen Konventionen „tabula rasa“ ge- 
macht hatte - und noch nicht wieder nach dem 
„Bruch“ mit der Moderne. Die Kritik an ihren 
letzten großen Abkömmlingen der 60er und 
70er Jahre, an Leere, Monotonie und Un- 
menschlichkeit und die Kritik am Stadtum- 
bau der letzten zwei Jahrzehnte, am Verlust 
städtischen Lebensgefühls und -raums, hat ei- 
ne Vielzahl von Ansätzen und Richtungen 
hervorgebracht. Sie reichen von Partizipa- 
tions- und Selbsthilfemodellen bis zur Wieder- 
entdeckung der Architektur als Bedeutungs- 
träger, von neuen Wohnmodellen und Finan- 
zierungskonzepten bis zum Widerstreit ver- 
schiedener ästhetischer Strömungen, von Ver- 
kehrsberuhigung und _stadtgestalterischen 
Maßnahmen bis zum ökologischen Stadtum- 
bau, von Modernisierung und Denkmalpfle- 
ge bis zu neuen Siedlungskonzepten. 
Die Pluralität der Ansätze ist auch keines- 
falls negativ, wenn es sich um konkrete Ant- 
worten auf jeweils besondere Gruppen und Si- 
tuationen handelt. Sie ist so betrachtet histo- 
risch die konsequente Reaktion auf die Mo- 
derne, auf den postulierten neuen Menschen, 
der gleich sein sollte und es nicht wurde, auf 
den allseitigen Raum, der demokratisch nutz- 
bar sein sollte und leer blieb. Aber diese Plura- 
lität drückt auch Orientierungslosigkeit aus 
- und birgt die Gefahr von Modeströmungen. 
Ob rund oder eckig, spitzgiebelig oder trauf- 
ständig, krumm oder gerade, ob eher Mittel- 
alter oder eher Renaissance kann so sehr 
ästhetisch abgehobenen Frage werden, je 
nachdem, was gerade „in“ ist. Nicht daß es die 
„ästhetisch abgehobenen Frage werden, je 
nachdem, was gerade „in“ ist. Nicht daß es die 
„ästhetische Frage“, nicht gäbe, im Gegenteil, 
aber sie darf nicht Ersatzfunktion für unge- 
löste Probleme der Raumorganisation erhal- 
ten. Genau hier an dieser Stelle wollen wir an- 
setzen: Trotz aller Pluralität gibt es noch im- 
mer gültige Regeln des sozialen Verhaltens im 
Raum, des individuellen und gemeinschaftli- 
chen Raumgebrauchs. Von daher kann und 
sollte es auch eine soziale Raumlehre geben, 
gewissermaßen „soziale Prinzipien“ der 
Raumorganisation, die zur orientierenden 
Grundlage für die Vielzahl möglicher Lö- 
sungen werden können. 
Es gibt Regeln, Konventionen, Verhaltens- 
muster, die den Rahmen für die Raumnut- 
zung abstecken - sowohl was den Innenraum, 
als auch den Außenraum betrifft. Diese Kon- 
ventionen sind nicht starr und werden histo- 
risch fortgeschrieben, sie haben aber mehr 
Konstanz als allgemeinhin angenommen wird 
und vor allem auch in der Fortschreibung und 
Veränderung konstituieren sie sich wieder als 
„Regeln“, als ein Rahmen für das Mögliche. 
Machbare. 
Raum, wie er hier behandelt wird, ist also 
immer zugleich Sozialraum - keine einsame 
Insel und kein einsames Monument architek- 
tonischer Größe. Wo Menschen zusammenle- 
ben, entsteht ein Raum, ganz zwangsläufig. 
Ihre Beziehungen zueinander, ob unmittelbar 
oder in Verhaltensmustern geronnen, be- 
schreiben, prägen und erschaffen Räume. 
Letztendlich hat dieser soziale Raum der 
Menschen untereinander auch die Dimension 
von Breite mal Länge mal Höhe - oder genau- 
er: er setzt sich um in „Orte“, in die Beziehung 
unterschiedlicher Orte zueinander, in ein 
komplexes Raumgefüge. Zur Charakterisie- 
rung dieser Orte unterschiedlichen Verhaltens 
wird der Begriff „soziale Raumcharaktere“ 
eingeführt und die städtischen Formen der 
Zuordnung der möglichen Raumcharaktere 
aufgezeigt. Mit dieser Methode lassen sich die 
Räume vor, hinter, zwischen den Gebäuden 
usw. auf ihre soziale Gebrauchsfähigkeit hin 
detailliert untersuchen, wobei der Ausbildung 
von Grenzen und Übergängen zwischen den 
verschiedenen Raumcharakteren eine beson- 
dere Bedeutung zukommt. 
Es gibt in einem doppelten Sinne eine „To- 
pologie“ der städtischen Räume: entspre- 
chend der ursprünglichen Wortbedeutung von 
„topos“ = Ort bezeichnet Topologie die Lage 
und Anordnung der Gebäude und die Zuord- 
nung der Freiräume zu den Gebäuden. In der 
Linguistik dagegen bedeutet „Topos“ ein kon- 
ventionelles Denkschema, das benutzt, aber 
nicht mehr hinterfragt wird. Wenn also in den 
verschiedenen städtischen Räumen, auf der 
Straße, dem Platz, dem Hof oder dem Haus- 
garten spezifische Verhaltensregeln gelten und 
die jeweilige räumliche Situation selbst be- 
deutet, welche dies jeweils sind, dann lassen 
sich beide Bedeutungen von „topos“ aufein- 
ander beziehen und auf städtische Räume an- 
wenden. Es gibt eine soziale Topologie oder 
eine „Sprache des städtischen Raums“. Die 
verschiedenen sozialen Raumcharaktere las- 
sen den Menschen bestimmte Verhaltenswei- 
sen offen und verwehren andere. Die Räume 
haben also Bedeutungen, nicht von Natur aus, 
sondern weil die Menschen sie ihnen gegeben 
haben, sich dann an sie gewöhnt haben, so daß 
die konventionell gewordene, also „selbstver- 
ständliche“ Bedeutung der Räume nun den 
Menschen selbst etwas zu bedeuten scheint. 
Wo die Menschen den sozialen Raumcha- 
rakter nicht dechiffrieren können, sei es weil 
sie aus anderen kulturellen Zusammenhängen 
kommen, oder sei es, weil die räumliche Situa- 
tion selbst unklar ist, da breitet sich Verhal- 
tensunsicherheit aus oder es entstehen unnöti- 
ge Konflikte durch ungewollte Regelverlet- 
zungen. Im Siedlungsbau der Nachkriegszeit 
sind solche diffusen Räume die Regel. Die 
„Sprache des städtischen Raums“ ist hier zu 
einem weitgehend unverständlichen Kauder- 
welsch verkommen 
Es mag nun konservativ erscheinen, an die- 
sen sozialräumlichen Konventionen anzu- 
knüpfen und die sozialen Raumbedeutungen 
zum Ausgangspunkt zu machen, legen sie 
doch in bestimmter Weise das Raumverhal- 
ten fest. Dem ist entgegenzuhalten, daß gera- 
de die Moderne gezeigt hat, daß es mehr an 
Restriktionen als an Befreiung mit sich bringt, 
wenn - in progressiver Absicht - geltende Kon- 
ventionen negiert werden. Ihnen Raum zu ge- 
ben, schafft mehr Wahlfreiheit und Entwick- 
lungsmöglichkeiten. als sie für ungültig zu 
erklären 
Die moderne Konzeption eines homogenen 
Allraums, der die freistehenden Volumina der 
Baukörper umfließt, sollte ein Raum für alle 
sein. Tatsächlich wurde daraus ein Niemands- 
land, ordentlich verwaltet von den Woh- 
nungsbaugesellschaften. 
Die von Le Corbusier propagierte Verflüssi- 
gung aller Unterschiede in den sozialen Cha- 
rakteren des Außenraums, die Liquidation 
von Korridorstraße, Hof oder privatem Haus- 
garten zugunsten einer Art öffentlicher Park- 
landschaft schafft ein Mehr an Raum nur im 
physischen, nicht im sozialen Sinne, schränkt 
die Vielfalt der möglichen Nutzungen im Au- 
ßenraum ein auf die eines müßigen Spazier- 
gängers, statt sie zu erweitern. 
Eine Vielfalt an Gebrauchsmöglichkeiten 
kann nur auf der Grundlage und durch Diffe- 
renzierung eines Gefüges unterschiedlicher 
sozialer Raumcharaktere entstehen. 
Welches sind nun die sozialen Dimensionen 
des städtischen Raums, welche unterschied- 
liche soziale Raumcharaktere konstituieren? 
Es sind dies: 
1) Regelungen des Zugangs, 
2) Regelung (bzw. Manipulierung) der Nähe- 
und Distanzbeziehungen durch Zuord- 
nungen, Grenzen sowie Vermittlungsglie- 
der (Übergänge) 
3) die jeweils geltenden, faktischen Re- 
gelungen der Verfügung und Kontrolle 
über die Freiflächen. 
Die drei wichtigsten (positiven) sozialen 
Raumcharaktere lassen sich anhand abgestuf- 
ter Zugänglichkeit unterscheiden, wenn auch 
nicht vollständig definieren: 
® der öffentliche Raum ist jedermann zu- 
gänglich, (für halböffentliche Räume gibt 
dies im Prinzip auch, faktisch werden sie je- 
doch fast nur von den Anwohnern benutzt; sie 
sind jedoch immer Teil primären Wegenetzes, 
das die (vorderen) Hauseingänge erschließt) 
® gemeinschaftliche Freiräume sind jeweils 
nur einem überschaubaren Kreis von An- 
wohnern zugänglich, Fremde werden zumin- 
dest mit symbolischen Mitteln vom Ein- 
dringen abgehalten, 
® private Freiflächen sind ihrer sozialen Na- 
tur nach nur für Haushaltsmitglieder und 
eingeladene Gäste zugleich. 
Neben diesen grundlegenden (positiven) 
Raumcharakteren gibt es Übergangscharakte- 
re, die zwischen zwei unterschiedlichen Raum- 
charakteren vermitteln - in der Regel zwischen 
dem privaten Charakter der Wohnung oder 
des Hauses und dem öffentlichen Charakter 
der Straße. So ist der Vorgarten eine zweifel- 
los private, zugleich aber auf den öffentlichen 
Raum bezogene Freifläche. Als repräsentati- 
ver Vorgarten hat er die Funktion trotz großer 
räumlicher Nähe soziale Distanz auszudrük; 
ken. Neben diese repräsentativen, sozial 
distanzierenden Form gibt es in anderen so- 
zialkulturellen Zusammenhängen, die hierzu- 
lande allerdings selten geworden sind, auch 
andere, einladendere Formen der Vorzone, 
wie z.B. Vorhöfe, die der aktiven Benutzung 
mehr entgegenkommen, als das nur zum An- 
schauen bestimmte Repräsentationsgrün. 
Im modernen Siedlungs- und Städtebau 
gibt es gegenüber diesen traditionellen so- 
zialen Raumcharakteren, deren Bedeutung je- 
dermann verständlich ist. neue Raumcharak-
	        

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