Der folgende Beitrag ist dem Buch „Raum für
soziales Leben“ von Marc Fester, Sabine
Kraft und Elke Metzner entnommen. Es han-
delt sich dabei um die Zusammenstellung ein-
zelner, gekürzter Textpassagen aus mehreren
Kapiteln. Das Buch ist 1983 im Verlag C.F
Müller. Karlsruhe. erschienen
Marc Fester, Sabine Kraft
Raum für soziales Leben
Die Sprache des Raums
Im Mittelpunkt soll die Frage nach der so-
zialen Gebrauchsfähigkeit des Raums stehen:
Wie muß die alltägliche städtische Wohnum-
welt beschaffen sein, damit sie vielfältigen
Nutzungsweisen „Raum gibt“ und sich nicht
gegen den Gebrauch sperrt, daß sie Verhal-
tensspielräume eröffnet und nicht verschließt?
Auf diese Fragen gibt es heute keine selbst-
verständlichen Antworten - nicht mehr, seit-
dem die Moderne gegenüber dem traditionel-
len Städtebau und den überkommenen sozial-
räumlichen Konventionen „tabula rasa“ ge-
macht hatte - und noch nicht wieder nach dem
„Bruch“ mit der Moderne. Die Kritik an ihren
letzten großen Abkömmlingen der 60er und
70er Jahre, an Leere, Monotonie und Un-
menschlichkeit und die Kritik am Stadtum-
bau der letzten zwei Jahrzehnte, am Verlust
städtischen Lebensgefühls und -raums, hat ei-
ne Vielzahl von Ansätzen und Richtungen
hervorgebracht. Sie reichen von Partizipa-
tions- und Selbsthilfemodellen bis zur Wieder-
entdeckung der Architektur als Bedeutungs-
träger, von neuen Wohnmodellen und Finan-
zierungskonzepten bis zum Widerstreit ver-
schiedener ästhetischer Strömungen, von Ver-
kehrsberuhigung und _stadtgestalterischen
Maßnahmen bis zum ökologischen Stadtum-
bau, von Modernisierung und Denkmalpfle-
ge bis zu neuen Siedlungskonzepten.
Die Pluralität der Ansätze ist auch keines-
falls negativ, wenn es sich um konkrete Ant-
worten auf jeweils besondere Gruppen und Si-
tuationen handelt. Sie ist so betrachtet histo-
risch die konsequente Reaktion auf die Mo-
derne, auf den postulierten neuen Menschen,
der gleich sein sollte und es nicht wurde, auf
den allseitigen Raum, der demokratisch nutz-
bar sein sollte und leer blieb. Aber diese Plura-
lität drückt auch Orientierungslosigkeit aus
- und birgt die Gefahr von Modeströmungen.
Ob rund oder eckig, spitzgiebelig oder trauf-
ständig, krumm oder gerade, ob eher Mittel-
alter oder eher Renaissance kann so sehr
ästhetisch abgehobenen Frage werden, je
nachdem, was gerade „in“ ist. Nicht daß es die
„ästhetisch abgehobenen Frage werden, je
nachdem, was gerade „in“ ist. Nicht daß es die
„ästhetische Frage“, nicht gäbe, im Gegenteil,
aber sie darf nicht Ersatzfunktion für unge-
löste Probleme der Raumorganisation erhal-
ten. Genau hier an dieser Stelle wollen wir an-
setzen: Trotz aller Pluralität gibt es noch im-
mer gültige Regeln des sozialen Verhaltens im
Raum, des individuellen und gemeinschaftli-
chen Raumgebrauchs. Von daher kann und
sollte es auch eine soziale Raumlehre geben,
gewissermaßen „soziale Prinzipien“ der
Raumorganisation, die zur orientierenden
Grundlage für die Vielzahl möglicher Lö-
sungen werden können.
Es gibt Regeln, Konventionen, Verhaltens-
muster, die den Rahmen für die Raumnut-
zung abstecken - sowohl was den Innenraum,
als auch den Außenraum betrifft. Diese Kon-
ventionen sind nicht starr und werden histo-
risch fortgeschrieben, sie haben aber mehr
Konstanz als allgemeinhin angenommen wird
und vor allem auch in der Fortschreibung und
Veränderung konstituieren sie sich wieder als
„Regeln“, als ein Rahmen für das Mögliche.
Machbare.
Raum, wie er hier behandelt wird, ist also
immer zugleich Sozialraum - keine einsame
Insel und kein einsames Monument architek-
tonischer Größe. Wo Menschen zusammenle-
ben, entsteht ein Raum, ganz zwangsläufig.
Ihre Beziehungen zueinander, ob unmittelbar
oder in Verhaltensmustern geronnen, be-
schreiben, prägen und erschaffen Räume.
Letztendlich hat dieser soziale Raum der
Menschen untereinander auch die Dimension
von Breite mal Länge mal Höhe - oder genau-
er: er setzt sich um in „Orte“, in die Beziehung
unterschiedlicher Orte zueinander, in ein
komplexes Raumgefüge. Zur Charakterisie-
rung dieser Orte unterschiedlichen Verhaltens
wird der Begriff „soziale Raumcharaktere“
eingeführt und die städtischen Formen der
Zuordnung der möglichen Raumcharaktere
aufgezeigt. Mit dieser Methode lassen sich die
Räume vor, hinter, zwischen den Gebäuden
usw. auf ihre soziale Gebrauchsfähigkeit hin
detailliert untersuchen, wobei der Ausbildung
von Grenzen und Übergängen zwischen den
verschiedenen Raumcharakteren eine beson-
dere Bedeutung zukommt.
Es gibt in einem doppelten Sinne eine „To-
pologie“ der städtischen Räume: entspre-
chend der ursprünglichen Wortbedeutung von
„topos“ = Ort bezeichnet Topologie die Lage
und Anordnung der Gebäude und die Zuord-
nung der Freiräume zu den Gebäuden. In der
Linguistik dagegen bedeutet „Topos“ ein kon-
ventionelles Denkschema, das benutzt, aber
nicht mehr hinterfragt wird. Wenn also in den
verschiedenen städtischen Räumen, auf der
Straße, dem Platz, dem Hof oder dem Haus-
garten spezifische Verhaltensregeln gelten und
die jeweilige räumliche Situation selbst be-
deutet, welche dies jeweils sind, dann lassen
sich beide Bedeutungen von „topos“ aufein-
ander beziehen und auf städtische Räume an-
wenden. Es gibt eine soziale Topologie oder
eine „Sprache des städtischen Raums“. Die
verschiedenen sozialen Raumcharaktere las-
sen den Menschen bestimmte Verhaltenswei-
sen offen und verwehren andere. Die Räume
haben also Bedeutungen, nicht von Natur aus,
sondern weil die Menschen sie ihnen gegeben
haben, sich dann an sie gewöhnt haben, so daß
die konventionell gewordene, also „selbstver-
ständliche“ Bedeutung der Räume nun den
Menschen selbst etwas zu bedeuten scheint.
Wo die Menschen den sozialen Raumcha-
rakter nicht dechiffrieren können, sei es weil
sie aus anderen kulturellen Zusammenhängen
kommen, oder sei es, weil die räumliche Situa-
tion selbst unklar ist, da breitet sich Verhal-
tensunsicherheit aus oder es entstehen unnöti-
ge Konflikte durch ungewollte Regelverlet-
zungen. Im Siedlungsbau der Nachkriegszeit
sind solche diffusen Räume die Regel. Die
„Sprache des städtischen Raums“ ist hier zu
einem weitgehend unverständlichen Kauder-
welsch verkommen
Es mag nun konservativ erscheinen, an die-
sen sozialräumlichen Konventionen anzu-
knüpfen und die sozialen Raumbedeutungen
zum Ausgangspunkt zu machen, legen sie
doch in bestimmter Weise das Raumverhal-
ten fest. Dem ist entgegenzuhalten, daß gera-
de die Moderne gezeigt hat, daß es mehr an
Restriktionen als an Befreiung mit sich bringt,
wenn - in progressiver Absicht - geltende Kon-
ventionen negiert werden. Ihnen Raum zu ge-
ben, schafft mehr Wahlfreiheit und Entwick-
lungsmöglichkeiten. als sie für ungültig zu
erklären
Die moderne Konzeption eines homogenen
Allraums, der die freistehenden Volumina der
Baukörper umfließt, sollte ein Raum für alle
sein. Tatsächlich wurde daraus ein Niemands-
land, ordentlich verwaltet von den Woh-
nungsbaugesellschaften.
Die von Le Corbusier propagierte Verflüssi-
gung aller Unterschiede in den sozialen Cha-
rakteren des Außenraums, die Liquidation
von Korridorstraße, Hof oder privatem Haus-
garten zugunsten einer Art öffentlicher Park-
landschaft schafft ein Mehr an Raum nur im
physischen, nicht im sozialen Sinne, schränkt
die Vielfalt der möglichen Nutzungen im Au-
ßenraum ein auf die eines müßigen Spazier-
gängers, statt sie zu erweitern.
Eine Vielfalt an Gebrauchsmöglichkeiten
kann nur auf der Grundlage und durch Diffe-
renzierung eines Gefüges unterschiedlicher
sozialer Raumcharaktere entstehen.
Welches sind nun die sozialen Dimensionen
des städtischen Raums, welche unterschied-
liche soziale Raumcharaktere konstituieren?
Es sind dies:
1) Regelungen des Zugangs,
2) Regelung (bzw. Manipulierung) der Nähe-
und Distanzbeziehungen durch Zuord-
nungen, Grenzen sowie Vermittlungsglie-
der (Übergänge)
3) die jeweils geltenden, faktischen Re-
gelungen der Verfügung und Kontrolle
über die Freiflächen.
Die drei wichtigsten (positiven) sozialen
Raumcharaktere lassen sich anhand abgestuf-
ter Zugänglichkeit unterscheiden, wenn auch
nicht vollständig definieren:
® der öffentliche Raum ist jedermann zu-
gänglich, (für halböffentliche Räume gibt
dies im Prinzip auch, faktisch werden sie je-
doch fast nur von den Anwohnern benutzt; sie
sind jedoch immer Teil primären Wegenetzes,
das die (vorderen) Hauseingänge erschließt)
® gemeinschaftliche Freiräume sind jeweils
nur einem überschaubaren Kreis von An-
wohnern zugänglich, Fremde werden zumin-
dest mit symbolischen Mitteln vom Ein-
dringen abgehalten,
® private Freiflächen sind ihrer sozialen Na-
tur nach nur für Haushaltsmitglieder und
eingeladene Gäste zugleich.
Neben diesen grundlegenden (positiven)
Raumcharakteren gibt es Übergangscharakte-
re, die zwischen zwei unterschiedlichen Raum-
charakteren vermitteln - in der Regel zwischen
dem privaten Charakter der Wohnung oder
des Hauses und dem öffentlichen Charakter
der Straße. So ist der Vorgarten eine zweifel-
los private, zugleich aber auf den öffentlichen
Raum bezogene Freifläche. Als repräsentati-
ver Vorgarten hat er die Funktion trotz großer
räumlicher Nähe soziale Distanz auszudrük;
ken. Neben diese repräsentativen, sozial
distanzierenden Form gibt es in anderen so-
zialkulturellen Zusammenhängen, die hierzu-
lande allerdings selten geworden sind, auch
andere, einladendere Formen der Vorzone,
wie z.B. Vorhöfe, die der aktiven Benutzung
mehr entgegenkommen, als das nur zum An-
schauen bestimmte Repräsentationsgrün.
Im modernen Siedlungs- und Städtebau
gibt es gegenüber diesen traditionellen so-
zialen Raumcharakteren, deren Bedeutung je-
dermann verständlich ist. neue Raumcharak-