Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

durch das Industriekapital gerichtet, son- schaftskolossen von vorneherein die Zu- Schulze-Delitzschs und nachdem ersterer 
dern nach rückwärts auch gegen die damals mutung, sich zu ihren eigenen Idealen zu gescheitert war. Eigentlich nämlich war 
erst zuendegehenden Zwangsgenossen- verhalten, indem man diese gleich mit in das Aufbauen auf dem persönlichen Inter- 
schaften des Mittelalters und der frühen das vorliegende Ergebnis einzementiert. esse ein zu liberles Elemenet für die christ- 
Neuzeit, die Gilden, Zünfte, Innungen, Das haben sie nicht verdient. Wir sehen lich-konservativen Vorstellungen Raiffei- 
Mark- und Hauberggenossenschaften. heute, daß Marx in seiner heroischen Rei- sens. So beherrschten im Raiffeisenver- 
Wenn Schulze-Delitzsch noch 1862 so er- nigungsarbeit — und die spätere SPD tates band auch ein Zentralismus und ein dik- 
folgreich sein Evangelium der Selbsthilfe gerade da ihm folgsam nach — eben alle je- tatorisches Verfügen, das dem AGDB La- 
durch Genossenschaften auch den Arbei- nen warmen Herzenskräfte des Kleinbür- salles und Schweitzers alle Ehre gemacht 
tern verkünden konnte, so fußte das, trotz gertums aus der Arbeiterbewegung, über- hätte. Dem Gegner entsprechend, dem 
eines wahrhaft trivialen wirtschaftstheore- haupt der Linken, herausgeworfen hat, die ländlichen Wucher, kam zum schneidigen 
tischen Liberalismus auf einer damals hi- sie zu ihrem politischen Gedeihen und Zentralismus offenbar auch noch ein An- 
storisch gerade erst befestigten Errungen- Durchhalten dringend gebraucht hätte: teil Antiseminitismus. 
schaft, der Gewerbefreiheit, der, kaum ge- den ganzen sozusagen anthropologischen Damit ist allerdings nicht das gesamte 
wonnen, die große Industrie schon wieder Zug, den „menschlichen” Reichtum des jändliche Genossenschaftswesen charakte- 
das Lebenslicht auszublasen drohte, indem Frühsozialismus. Genossenschaftsbewe- risiert. In Hessen bildete sich, organisiert 
sie sie auf die Freiheit des Kapitals redu- gung und Arbeiterbewegung sind heute durch Wilhelm Haas, eine liberale ländli- 
zierte, alle anderen Produzenten niederzu- gleicherweise verpanzert, Dinosaurier des che Genossenschaftsbewegung heraus. 
konkurrieren und unselbständig zu ma- 19. Jahrhunderts; aber in der Genossen- Haas gründete Einkaufsgenossenschaften 
chen. Am Anfang schienen die Genossen- schaftsbewegung sind bei aller siegreichen und konnte mit deren Hilfe die Willkür der 
schaften daher auch der Weg zu sein, auf Plattheit unter diesem Panzer trotz allem Hersteller und des Zwischenhandels bre- 
dem sich der Weg zum freien vergesell- einige jener frühsozialistischen Ansätze chen: Kohlen, Saatgut, Düngemittel wur- 
schafteten Produzenten ohne Durchgang eingesargt, die in der haushoch überlege- den direkt eingekauft und nur nach Quali- 
den Industriekapitalismus gehen ließe — nen Theorie und Praxis ausgegrenzt blie- tätsprüfung bezahlt. Der Haas’sche Ver- 
eine Illusion, die zu Marxens Entsetzen so- ben. band breitete sich vor allem in Süddeutsch- 
gar Lasalle mit Schulz-Delitzsch teilte. land aus; bewußt regional angelegt, war er 
Die Genossenschaftsbewegung war da- 2. Historische Linien wesentlich demokratischer als der Raiffei- 
mit schon deshalb überfordert, weil sie sen-Verband, so daß die Trennung von 
eben in der Tat nur eine Selbsthilfebewe- Is Hermann Schulze-Delitzsch in De- Raiffeisen und die Hinwendung zu Schul- 
gung war. Ihr Subjekt war kein Klassenbe- A fizsch seine ersten Selbsthilfevereine Ze-Delitzsch unvermeidlich war. Genos- 
wußtsein, wie es die Arbeiterorganisatio- gründete, war weder ihm noch den dorti- Senschaftsdemokratie, Gewinnbeteiligung, 
nen trug, sondern die gemeinsame Ver- gen Handwerkern der Unterschied zwi- Ablehnung jeden Staatseingriffs, diese 
elendung von im übrigen von ganz unter- schen Handwerkern und Arbeitern klar, Müuttermale der Schulze-Delitzschen Ge- 
schiedlichen Bedingungen geprägten Schulze hatte ihn auch bei seinem Tode MNOssenschaften wurden auch für den 
Schichten. Niemals gab es eine wirkliche 1883 noch nicht begriffen. Für ihn war der Haassschen Reichsverband bindend. Eine 
Interessengleichheit unter den vielen selbständige Kleinproduzent das Modell gebietsspezifische Kartierung der Veran- 
Gruppen, die sich dieser Bewegung an- des wünschenswerten Menschen. Mit sei- Kerungen der beiden konkurrierenden Ver- 
schlossen, und die Verschiedenheit der In- nem Insistieren auf Selbsthilfe, Selbsttäig- bände würde wahrscheindlich zeigen , daß 
teressen hat sich in einem abenteuerlichen keit, Unabhängigkeit vom Staat hat er für der liberale Verband vor allem die höher 
Wirrwarr von Genossenschaften niederge- jenes vom Untergang bedrohte städtische entwickelten Agrarlandschaften vertrat, 
schlagen, wo oft die eine Ebene der Genos- Kleinbürgertum gekämpft, dessen Elend also den Südwesten und Ostpreußen. 
senschaftsbildung die Leugnung der ande- er erfahren hatte. Mit der Idee der Produk- Die dritte Linie der Genossenschaftsge- 
ren ist. Zu keiner Zeit ist es gelungen, die tivgenossenschaften, mit der er sich an die schichte ist die proletarische. Ihr Wortfüh- 
sämtlichen Genossenschaften und Genos- Arbeiter wandte, verließ er im Grunde rer war in den Gründungsjahren sicherlich 
senschaftstypen unter ein organisatorisches schon seine eigene Erfahrungsbasis, und Victor Aime Huber. Er propagierte in 
Dach zu bringen. Vielmehr spalteten und der Zauber, den er auf die entstehende Ar- Deutschland das Beispiel der Redlichen 
vereinten sich die Genossenschaftsverbän- beiterbewegung ausübte, dauerte mit gu- Pioniere von Rochdale als ein Modell der 
de solange, bis sich mit naturwüchsiger Ge- tem Grund nur ganz kurze Zeit. Die von Arbeiterselbsthilfe. (Die „Redlichen Pio- 
walt die einzelnen sozialen Situationen je- ihm als Anwalt des Allgemeinen Verban- niere”, Rochdaler Weber, hatten 1844 den 
weils ihre genossenschaftlichen Instumen- des geprägte Genossenschaftsbewegung ersten Coop-Laden eröffnet, unter Owens 
tarien in aller Konsequenz geschaffen hat- konzentrierte sich, der historischen Logik Einfluß gedacht als erste Stufe zu einem 
te folgend, auf die Rohstoff- und Kreditge- ganzen genossenschaftlichen Wirtschafts- 
Daß wir diese Plastizität der Vorgänge MNOssenschaften als das, was das Kleinge- System.) Unter seinem Einfluß nahm 
heute nicht mehr sehen, hat nicht nur mit werbe am dringendsten brauchte; alles, Schulze-Delitzsch die Konsumgenossen- 
der tatsächlichen Einebnung der Konturen Was dazu nicht paßte, wurde früher oder Schaft in sein Genossenschaftssystem auf 
durch NS und internationale Kapitalkon- SPäter abgekoppelt. und schlug sie den Arbeitervereinen als 
zentration zu tun, sondern auch damit, daß Schulzes Streit mit Friedrich Wilhelm Basis künftiger Produktivgenossenschaften 
diese Einebnungen eben auch solche unse- Raiffeisen zeigt, daß er nicht einmal die an- VOr. Aber Huber war weder Politiker noch 
res eigenen Bewußtseins sind. Wir können dere Fraktion des Kleinbürgertums ver- Organisator, er sah nur mit völliger Klar- 
uns dieses ganze ungeheuere Spektrum stand, die Bauern, sonst hätte er nicht um heit, daß hier eine neue Klasse entstand, 
von linkskatholischen und evangelisch- angebliche Prinzipienfragen des Genossen- der mit mittelständischen Überlebensmo- 
konservativen Weltanschauungsgruppen, schaftsrechts gestritten, in denen ihm der dellen nicht zu helfen war. Da er sie aber, 
kleinbürgerlichen Heils- und Reformbewe- Dorfbürgermeister Raiffeisen schon des- als ungebundener christlicher Konservati- 
gungen, bis zu den anarchistischen, soziali- halb nicht recht geben konnte, weil er bes- Ver, nicht anführen wollte, wie Lasalle, 
stischen gewerkschaftlichen Ansätzen und ser wußte, was die Bauern brauchten. Die SOndern ihr zu ihrem Recht helfen, sah er 
Organisationen nicht mehr vorstellen, erst Bauern waren in der Mitte des vorigen !n der genossenschaftlichen Organisation 
recht nicht, daß es zwischen ihnen über Jahrhunderts Freiwild einerseits des ländli- Weniger der Produktion — der er mit noch 
Jahrzehnte keine geschlossenen Wände chen Wuchers, andererseits der Saathänd- heute gültigen Gründen skeptisch gegen- 
gab, sondern Vereinbarkeiten und Hin- ler und Düngemittelfabrikanten. Die Raif- Überstand — als gerade der Reproduktion 
und Herfluten. Heute gibt es offenbar nur feisenvereine waren Kreditgenossenschaf- den geeigneten Ansatzpunkt: organisierte 
noch ‚Gut und Böse, die sozialistische Ge- ten, die durch langfristige Kredite die Bau- S°nkung der Lebenshaltungkosten durch 
nossenschaftsbewegung, die aber geschei- ern in die Lage versetzten, sich Hof und Konsum- und Baugenossenschaften. 
tert ist, und die bürgerliche, die Teil der Vieh überhaupt erst wieder anzueignen. Aus zögernden spontanen Ansätzen ent- 
herrschenden Zementierung ist. Mit dieser Von gemeinsamer Produktion, also von _wickelte sich die Konsumbewegung in zwei 
Weltsicht bzw. Erfahrungslosigkeit kommt echten landwirtschaftlichen Genossen- _organisierenden Phasen: in den sechziger 
man natürlich auch nie in Vesuchung zu schaften, konnte in diesen traditionellen Jahren baute Eduard Pfeiffer von Stuttgart 
untersuchen, ob der Zement der bundesre- armseligen Verhältnissen nicht die Rede aus einen Verband von Konsumgenossen- 
publikanisch-deutschen Wirtschaftsgesell- sein. Schon der Schritt vom caritativen schaften auf, die, nach dem Vorbild der 
schaft wirklich so homogen ist — vielmehr, Verein zur genossenschaftlichen Selbsthil-  Rochdaler Pioniere, zwar für alle offen wa- 
man erspart den erstarrten Genossen- fe tat Raiffeisen erst unter dem Einfluß ren, aber sich eindeutig an den Bedürfnis- 
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