Das sind neue Töne. Im Grundsatzpro- Genossenschaften zusammengelegt, zen-
gramm de SPD (Godesberger Programm tralisiert, zum Teil in Kapitalunterneh-
1959) kommen die Genossenschaften al- men umgewandelt. So standen nach 1945
lerdings nur einmal vor: bei der Land- vor allem die gemeinnützigen Woh-
Te wirtschaft! Und im Orientierungsrah- nungs(kapital)gesellschaften bereit, das
Peter Conradi men 1985 Mannheim 1975, fehlen sie Wohnungselend zu beseitigen, gelegent-
völlig. lich unter denselben Leuten, die schon
SPD Die innerparteilichen Fronten haben vor 1945 in der gemeinnützigen Woh-
sich verkehrt: Früher lehnte vor allem die nungswirtschaft tätig waren.
Linke die Genossenschaften als kleinbür- Es ist dennoch schwer verständlich,
d G gerlich und kleinkapitalistisch ab. Es sei daß nach der Niederlage 1945, als Selbst-
un enNOSsSsenN- ein Irrweg, die Menschen durch Genos- und Nachbarschaftshilfe über Jahre hin-
senschaften mit den bestehenden üblen weg eine wichtige Voraussetzung für das
h ft Verhältnissen zu versöhnen, es gelte Überleben Vieler waren, der Genossen-
SC a en vielmehr, diese Verhältnisse revolutionär schaftsgedanke nicht zum Zug kam.
zu verändern. Die pragmatischen Sozial- Möglich, ja wahrscheinlich ist, daß viele
demokraten hingegen fragten weniger Menschen durch die Zwangsgemein-
nach der sozialistischen Theorie als nach schaften der Nazizeit nun bewußt auf
den konkreten Verbesserungsmöglich- ihrer Individualität bestanden und jede
keiten der Wohn- und Arbeitswelt. Und Form von „Gemeinschaft“ ablehnten.
Ss ozialdemokratie und Genossenschaft da bot die Genossenschaft realisierbare Man muß sich fragen, ob die gewaltige
- das ist eine wechselhafte Beziehung. Veränderungsmöglichkeiten an. Heute Wiederaufbauleistung der 50er und 60er
Im 19. Jahrhundert verhielt sichdie SPD. ist es umgekehrt: die Linke erkennt die Jahre allein mit Wohnungsgenossen-
gegenüber den Genossenschaften skep- Defizite des Sozialstaats, die Unbeweg- schaften möglich gewesen wäre. Deshalb
tisch bis ablehnend. Sie seien als Träger lichkeit zentraler Bürokratien und die wäre es kurzsichtig, die großen Lei-
des Klassenkampfs nicht geeignet, hieß Unwirtlichkeit unserer Städte. Sie öff- stungen der gemeinnützigen Wohnungs-
es auf einem Parteitag. Im Kampf der Ar- net sich leichter den neuen Formen der wirtschaft bei der Beseitigung der Woh-
beiterklasse gegen ihre Unterdrücker sei Selbsthilfe, zum Beispiel in Genossen- nungsnot abzuwerten. Heute geht es um
die Genossenschaft kein wirksames schaften. Die konservativen Sozialdemo- etwas anderes: Die großen, professionel-
Instrument. Die Mitgliedschaft sah das kraten dagegen verharren im Etatismus. len, zentralisierten Bürokratien haben zu
anders: sie organisierte sich nach ihren Sie haben den Sozialstaat, den sozialen neuer Entfremdung geführt. Zur Ent-
Bedürfnissen in zahlreichen Konsum- Wohnungsbau, das Gesundheitswesen fremdung in der Arbeitswelt ist die Ent-
und Wohnungsbaugenossenschaften. mit aufgebaut und weigern sich, deren fremdung in der Wohnwelt, in der
Am Ende des 19. Jahrhunderts gabesge- Defizite zu erkennen. Und sie sehen Freizeit, im Gesundheitswesen, in der so-
radezu eine Gründungswelle neuer Ge- - ähnlich wie bei der außerparlamentari- zialen Sicherung gekommen. Deshalb
nossenschaften. Erst 1910 lenkte die Par- schen Jugendrevolte 1968 - ihre Macht- nehmen die Forderungen nach Selbsthil-
tei „oben“ ein: Parteitag und Parteivor- Positionen in Gefahr. fe, nach Selbstverwaltung und Selbstver-
stand räumten den Genossenschaften ei- Nicht nur die grundsätzlichen Erfah- wirklichung zu. Es wäre falsch, unter Be-
nen Platz in der Front der Arbeiterbewe- rungen der Arbeiterbewegung - sozialer rufung auf diese neuen Entfremdungen
gung ein. Die Praxis war der Theorie Fortschritt wird durch kollektive, orga- und mit der Forderung nach Selbsthilfe
vorausgeeilt. nisierte Interessenvertretung erkämpft - die mühsam erkämpften sozialen Fort-
Auch heute eilt die Praxis der Partei erschweren ihren Zugang zum Genossen- schritte zurückzudrehen, wie das die
voraus. Während landauf-landab Initia- Sschaftswesen. Auch die konkreten politi- Union mit der FDP an allen Fronten un-
tiven genossenschaftlicher Art entstehen, schen und materiellen Interessen vieler ternimmt. Vielmehr müssen wir für
tut sich die SPD schwer. „Oben“ aller- Genossen vor Ort stehen gegen die Ge- Wohnen, Gesundheit, Freizeit und Kul-
dings geht es diesmal - anders als vor 100 nossenschaften. Die meisten sozialdemo- tur andere Organisationsformen finden,
Jahren - leichter. Im Wahlprogramm der Kratischen Wohnungs- und Kommunal- die den Betroffenen die Möglichkeiten
SPD zur Bundestagswahl 1983 heißt es Politiker sind heute so SM wieihre der Selbstverwaltung und Selbstverwirk-
; hie _ Vorfahren im 19. Jahrhundert. Für den lichung geben und ein Gegengewicht ge-
oe GERA NER TORE TEE EI de Gewerkschaftssekretär, der Stadtrat der gen die fortschreitende Entfremdung
belebt werden. Überschaubare Einheiten SPD, Vorstandsmitglied der Arbeiter- bilden. : .
können wirksam das Verantwortungsge- wohlfahrt, Aufsichtsrat im städtischen Das wissen viele Sozialdemokraten,
fühl des Einzelnen ansprechen und seine Wohnungsunternehmen und Mieter bei vor allem die aus der außerparlamentari-
Einsatzbereitschaft fördern“. der Neuen Heimat ist, sind die neuen schen Opposition und der Friedensbe-
n « N Formen der Selbsthilfe eine Bedrohung wegung zu uns gekommenen jüngeren
In seiner Rede beim Wahlparteitag 1983 einer Machtbasis. Er vermittelt Woh- Mitglieder. Und es gibt viele Beispiele,
in Dortmund sagte Hans-Jochen Vogel: nungen, entscheidet mit über Grund- wo sich Sozialdemokraten der oft
„Laßt mich bei dem Stichwort ’Genos- stückskäufe, über Planungs- und Bau- frustrierenden Parteiarbeit überdrüssig,
senschaft’ noch einen Augenblick verwei- aufträge - dies alles ist Macht, und die in Genossenschaften und Selbsthilfepro-
len. Eine ihrer frühesten Erscheinungs- gibt man so leicht nicht aus der Hand. jekten engagieren. Diesmal wird es nicht
formen waren die Baugenossenschaften. Genossenschaft, Selbsthilfe - das bedeu- wieder 40 Jahre brauchen, bis die SPD zu
Sie waren ursprünglich eine alternative tet Selbstverwaltung, möglicherweise ge- den Genossenschaften findet. Die Ver-
Bewegung: Alternativ zum privaten ringeren Einfluß. Ganz klar, daß sichun- hältnisse erzwingen die Beschäftigung
Eigenheim, das damals für den Arbeiter ser Stadtrat dafür entscheidet, das städti- mit diesem Thema: Preiswerte Altbau-
unerschwinglich war und auch heute sche Baugrundstück nicht an eine neue wohnungen müssen vor der Spekulation
noch für viele Arbeitnehmer kaum er- Baugenossenschaft im Erbbaurecht zu geschützt werden, der traditionelle Ei-
schwinglich ist; alternativ ebenso zu vergeben, sondern es an einen privaten genheimbau ist unbezahlbar geworden,
Mietskasernen, die nach dem Prinzip Interessenten zu verkaufen und mit dem leerstehende Gewerbebauten brauchen
maximaler Kapitalnutzung gebaut wur- Erlös den traditionellen sozialen Miet- eine neue Nutzung; überall gibt es Aufga-
den. Die Genossenschaften bauten Woh- wohnungsbau zu betreiben, am besten ben für Genossenschaften.
hungen unter Verzicht auf Gewinnmaxi- mit einer bewährten gemeinnützigen Die Geschichte der Genossenschaften
mierung und sie sorgten dafür, daß die Wohnungs(kapital)gesellschaft. zeigt, daß es bei der Gründung von Ge-
Wertsteigerung des Bodens der Gemein- Die Frage liegt nahe, warum SPD und nossenschaften nie ohne tatkräftige Hil-
schaft verblieb. Manche ihrer Sied- Gewerkschaften nach 1945 das Genos- fe von außen ging. Die Selbsthilfe mußte
lungen waren bahnbrechende Beispiele senschaftswesen nicht zur Grundlage des fast immer mit Hilfe Anderer initiiert
guter Architektur und einer neuen Wiederaufbaus gemacht haben. Dafür und gefördert werden, ob das sozial ge-
Wohn- und Lebenskultur“ gibt es viele Gründe. Die Nazis hattendie sinnte Konservative, liberale Unterneh-
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