Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

tung weder vom Historiker, noch vom Architekten, noch vom So- 
ziologen isolierte Antworten zu geben. Wenn ich das als Historiker 
dennoch versuche, dann kann dies nur in einem schlichten Aufweis 
von Verflechtungen geschehen, die die historische Entwicklung 
mitgestalten und aus denen ein Hinweis auf die zukünftige Gestal- 
tung und Funktion der Stadt abgeleitet werden kann. 
Diese Überlegungen haben also zwei Teile: einen historischen 
und einen spekulativen. Im ersten Teil will ich kurz versuchen, am 
Beispiel der mittelalterlichen Stadt, der Residenzstadt und der In- 
dustriestadt im 19. und 20. Jahrhundert, Elemente aufzuzeigen, 
welche die Stadt bestimmten und bestimmen, welche Funktionen 
sie für wen hatten und haben und welche Interessen da baulich Ge- Le Corbusiers zeitgenössische Stadt für drei Millionen Einwohner, 1°° 
stalt erhielten. Gleichzeitig soll deutlich werden, daß die Stadt im- 
mer eingebunden ist und war in ökonomische und soziale Prozes- ek 
se, die wiederum wesentlich von der Organisation der Arbeit, dem EM EI 
Stand der Produktivkräfte und der Beherrschung der Natur be- DEM Fa 
stimmt waren. N ns 
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Während in der Antike die Stadt das Organisationsprinzip des öf- KANAKLTTZTI HN 
fentlichen Lebens war, wurde im Mittelalter das Land die Grund- AS SZ UST TE 
lage der Herrschaft und das Lehnswesen Organisationsprinzip der Da aD Ca Cr Fa 
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feudalen Gesellschaft. Die ehemaligen Sklaven wurden persönlich Bed AL ; SS 
frei, doch gleichzeitig an die Scholle gebunden. Auch ehemals EL HM EEa0 DEE 
freie Bauern sanken im Zuge der Feudalisierung zu Leibeigenen DA Ta Fl I} Sl AO 
herab. Diese Neuorganisation und die Anwendung neuer Techni- AT ee li SO Ab 
ken wie Pflug, Wind- und Wassermühlen führte zu einer tiefgrei- LS A GO A] (Ei pl en 
fenden Umwälzung der Agrarwirtschaft und einer damit verbun- es A m m ie 
denen Bevölkerungsexplosion. Städte entstanden aus diesem Sur- A Hd IE) F: 1 db. RP 
plus. Im Schutz von Burg und Feudalherr entwickelte sich fort- I HE HE I 6 FF E) CIE &l 
schreitende Arbeitsteilung. Sie lebte vom Ausbau der gewerbli- DL "kr A ET 
chen Produktion, Fernhandel und Marktversorgung. Entspre- AN AL] EEE DI de 
chend wurden ihre charakteristischen Elemente, neben der geistli- mn A En ve 
chen Macht, „Markt” und „Mauer”. Mit zunehmendem Reichtum 1 (Ir $ —e 
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wuchs auch die Selbständigkeit gegenüber dem feudalen Stadt- "DT LATE 
herrn. Städte sind Kunstprodukte des UÜberflusses. Dabei stand Pads 
der feudalen Herrschaft die Genossenschaft und der Schwurver- ak 
band der Bürger gegenüber. Sie erkämpften sich einen eigenen a 
Bereich mit Rechtsgleichheit und -einheit. Diese Freiheit machte N rar 
Stadt. Erst mit Macht wurde Stadt Stadt, und frei, indem sie Macht 
hatte. Dieser Gegensatz schuf die Einheit der Stadt, gab ihr Iden- Fame 
tität. 
Ausdruck der materiellen Kraft wurde die Stadtmauer mit ihrer 
Schutz- und Abgrenzungsfunktion nach außen gegen das Land und 
ihrem Zwang zur Integration und Identifikation, aber auch zur Diese Harmonie meinen diejenigen, die heute vom „organi- 
Überbrückung ihrer tiefen sozialen Gegensätze im Innern. Denn schen” Wachstum der Stadt sprechen. Doch sie ist genau das Ge- 
Stadtluft machte zwar frei, aber nicht unabhängig. Die neuen Her- genteil. Sie ist gesetzte Ordnung der als heilig interpretierten Welt- 
ren der Stadt wurden die durch Fernhandel reich gewordenen Pa- und Lebensauffassung des Mittelalters. Stadt wächst politisch, 
trizierfamilien. An ihrem Regiment hatten die Handwerker wenig, nicht organisch. Und ein Wort gegen die Kritiker des Funktionalis- 
meist keinen Anteil. Sie hatten aber in den Zünften ein Selbstver- mus, Stadt war immer funktional: entsprechend den damaligen 
waltungsorgan, das sich im Laufe des Mittelalters von einer reinen Wirtschaftlichen und technischen Grundlagen und der Entwicklung 
Wirtschaftskooperation zur Vertretung der Bürgerschaft gegen- des Transport- und Kommunikationswesens auch die mittelalterli- 
über dem Rat entwickelte, das mit unterschiedlichem Erfolg um che Stadt. Sie war auf die Dominanz des Fußgängers angelegt, die 
die Mitbeteiligung an der Macht kämpfte. Die Arbeit erhielt so Straßen waren lediglich Zugänge zu den Häusern und Plätzen, ihre 
Kontrolle bei den Finanzen und der Stadtplanung. Denn der Rat Enge für die Verteidigung sinnvoll. Selbst der Wärmehaushalt 
entschied und regelte, was und wie gebaut werden durfte. Rat- spielte eine Rolle bei der Planung. Die breitere Fahrstraße ver- 
haus, Kornspeicher, Marktkirche und Markthalle wurden Symbo- band lediglich Tor, Markt und Brunnenplätze. Die Elite wohnte 
le der neuen Herrschaft; diese jedoch gebunden an die Selbstkon- im Zentrum mit seinen wichtigen Institutionen. Unterprivilegierte 
trolle der Mächtigen und die gegenseitige Kontrolle der dezentra- Gruppen waren nicht separiert. Die wesentlich sorgfältigere Ge- 
len Ordnungen. Stadt war dicht besetzt von einem offenen System staltung der öffentlichen Räume hatte ihren Ursprung in ökonomi- 
dezentral balancierter Gewalten. Jedes Stadtviertel hatte eigene schen Bedingungen. Die Häuser waren Wohn- und Arbeitsstätten. 
Kompetenzen und Verantwortung, einen eigenen Kern, eigene Und entsprechend eng. Ein wesentlicher Teil des Lebens spielte 
Kirche, Rathaus und Markt und ein eigenes, mit anderen Stadttei- Sich deshalb draußen ab. Öffentliche Grünflächen fehlten. Die 
len konkurrierendes Bauprogramm, das.jedoch aufgrund einer ei- „feindliche Natur” war aus der Stadt verbannt (Heide Berndt). 
genen Idealität — als Ebenbild der Civitas Dei — und durch die Und noch etwas hatte der städtische Kaufmann funktionalisiert: 
symbolische Beziehung zwischen allen Teilen ein harmonisches Er brach das Schrift- und Bildungsmonopol der Kirche und machte 
Bild ergab (Jürgen Pahl). Hieraus entstanden stadträumlich-städ- es zum Instrument eines rationalen Wirtschaftsdenkens, zur dop- 
tebauliche Homogenitäten, die in Dimensionen und Proportion Ppelten Buchführung und einer säkularisierten Wissenschaft. Die- 
von Straßen und Plätzen und Baukörpern eine Kontinuität in der Ses rationale Denken und der daraus begründete Reichtum stellte 
Abfolge von Bewegungsräumen darstellten, wobei aber diese nicht Schließlich das statische mittelalterliche Weltbild in Frage und kün- 
ein Ergebnis organischen Wachstums war, sondern harter Bindun- digte den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit an. 
gen, die auch die architektonischen Ausdrucksweisen in Dimen- 
sion, Gliederung, Material und Farbgebung der Gebäude, die Fas- In dieser Umbruchphase entstanden die geistigen Bewegungen 
sade, die Dachformen erfaßten des Humanismus, der Renaissance, der Reformation, der neuen 
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