Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

Die Industriestadt 
Die Zustände der neuen städtischen Agglomerationen sind mit bö- 
sen Worten beschrieben worden. Sie waren durch den Industriali- 
sierungsprozeß bestimmt, vom Nutzen und von Spekulation ge- 
prägt. Sie waren beherrscht von der Fabrik, der Eisenbahn, den 
Slums. Die Flüsse verwandelten sich in Abwasserkloaken, vor der 
Stadt türmten sich Berge von Abfall, Schlacke, Asche und Schrott. 
Es fehlten selbst die minimalsten Voraussetzungen für Hygiene, 
Sauberkeit, Feuerschutz, Wasser- und Nahrungsmittelkontrolle, 
ebenso wie jede soziale Einrichtung. Ganze Stadtviertel hatten oft 
kein Wasser. In Manchester gab es z.B. für 7000 Menschen nur 33 
Toiletten (1845). Überall entwickelten sich ähnliche Formen von 
Arbeitersiedlungen, in Glasgow, Paris, Berlin, in den neuen Städ- 
ten des Ruhrgebiets. Ihre Merkmale waren überall gleich: Block 
an Block, öde, schmutzige Gassen, schmale dunkle Häuser, feuch- 
te Wände, ohne Luft und Licht, ohne Gärten, mitten im Staub, 
Ruß und Lärm von Fabriken. Dieser „Neubeginn” der Stadt war 
aber nicht nur durch Elend, rasches Wachstum, Industrialisierung, 
Otto Warner, Idealentwurf für den XXI. Bezirk in Wien. 1910-7 einer neuen politischen und sozialen Ordnung gekennzeichnet. 
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts endet auch die Zeit der „gro- 
ßen Stile”, der Gefaßtheit der Stadt, ihrer Gestaltung durch ein 
überblickbares und beherrschbares Grundangebot an Material, 
Bearbeitungskunst, überlieferter Erfahrungswerte, Bewährungen. 
Die Stadt wird im Zuge der neu organisierten Arbeit zum spekula- 
tiven Raum einer „rücksichtslosen Täterschaft” (M. Weber); die 
geschichtliche Substanz wird verdünnt; die Stadt verliert ihre Um- 
grenzung und Dichte; das Stadtgefüge wird aufgebrochen, die 
Mauer niedergerissen, ihre Kontinuität unterbrochen, die Raum- 
zusammenhänge zerstört, Wege, Bezirke und Plätze, die Knoten- 
punkte verlieren ihre Identifikationskraft oder erhalten neue 
Funktion: Stadt wird im Zuge der neuen Technik und der umfas- 
send neu organisierten Finanzierungen zum Rest, ja Überrest ei- 
ner ehemals umfassenden Größe, wird zum neuen komplexen Sy- 
stem künstlicher Elemente. Der „Ort” Stadt geht verloren; die 
Stadt wird offen, groß, die „Innenräume” werden gesprengt; ent- 
sprechend der neuen Arbeitsorganisation setzt eine ..Konfusion 
der Maßstäbe” ein (Korbey). 
Die alten Städte wehrten sich zunächst gegen die „Freizügig- 
keitsgesetze” der Regierung. Der „Andrang des Proletariats” be- 
drohe ihren „Gemeinsinn” und ihre „Persönlichkeit”, vor allem 
Giacomo Matte-Trucco, Fiat Werke in Turin Lingotto, 1914-22 aber ihre Privilegien und das Budget ihrer Armenpflege. Im Wi- 
derstreit zwischen liberaler Wirtschaftsgesinnung und christlich- 
Wettbewerb der Wirtschaft eingreifen. Erst als die Mißstände zu konservativer Sozialverfassung setzten sich dann die industriellen 
gravierend wurden und die Rekrutierung von Soldaten und Ar- Unternehmer durch (Jürgen Reulecke). Mit dem Wegfall alter 
beitskräften gefährdete, mußte der Staat auch hier eingreifen: mit Zunftbeschränkungen und Schutzmaßnahmen fiel die Verpflich- 
bescheidenen Gesetzen zur Einschränkung der Kinderarbeit tung und Fürsorge. Die Aufhebung von Kontrolle und Bindung 
(1833/39) und der Arbeitszeit auf 10 Stunden (1847/48 zuerst in bedeutete uneingeschränkte Freiheit für privaten Gewinn und pri- 
England). Erst gegen Ende des Jahrhunderts kam es unter dem vate Vermögensbildung, ohne Rücksicht auf das Gemeinwesen. 
Druck der Arbeiterbewegung zu wirkungsvolleren Schutzbestim- Laissez-Faire und Wettstreit verbürgten nach der neuen National- 
mungen. Unter dem Druck von Seuchengefahr und Aufruhr gab es Ökonomie Adam Smith’ ein Höchstmaß an Freiheit und Güter für 
auch die ersten Richtlinien für Städte: Fluchtpläne für den Häuser- alle. Wo der Boden nicht als Feudalbesitz gebunden war, wurde er 
bau, Ausbau von Kanalnetzen, Wasserleitungen, Gas- und Strom- zur Bodenspekulation freigegeben. Je dichter die Bebauung, je 
versorgung und Verkehrsbetriebe. höher der Kapitalwert. Die früheren Armenwohnungen wurden 
Der ständige Prozeß der Arbeitsteilung und Differenzierung nun bald Maßstab für die Wohnungen, 4- bis 5stöckige Häuser mit 
hatte das Aufkommen neuer Berufe nach sich gezogen: die Ange- einem Minimum an Licht, Luft, sanitären Anlagen. Das Ergebnis 
stellten, Techniker, Ingenieure. war ein Verdrängungsprozeß und eine enorme Ausweitung und 
Die Sozialstruktur verschob sich: aus der mittelalterlichen Stän- Zersplitterung der Stadt, die zunehmende Verslumung ganzer 
degesellschaft wurde eine Gesellschaft verschiedener Klassen und Stadtviertel. Die Mieten stiegen unaufhörlich — bei stagnierenden 
Schichten. Es entstanden ihnen entsprechende Interessenverbän- Reallöhnen — und trieben das Proletariat mehr und mehr aus der 
de, Parteien und Organisationen. Stadt in die Vorstädte. 
Die für die Städte gravierendste Änderung lag in der ungeheu- Bis weit in das 19. Jahrhundert bot die Stadt noch Raum für die 
ren Bevölkerungsexplosion und einer vollkommenen gesellschaft- entstehenden Fabriken. Die Masse der Arbeiter und Güter mußte 
lichen Umwälzung, insbesondere aber einer wirtschaftlichen. in und aus der Stadt transportiert werden. Dafür gab es nun das 
Während zu Beginn des Jahrhunderts noch der überwiegende Teil neue Verkehrsmittel: die Eisenbahn. Sie riß riesige Schneisen in 
der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt war (65 %),in die Stadt der Reiter, Pferde und Kutschen. Diese mußten bald 
der Industrie 19 % und im Dienstleistungsbereich 16 %, nahm der neuen Transportmitteln, den pferdegezogenen, später elektri- 
Anteil der Landwirtschaft bei steigender Produktivität durch den schen Straßenbahnen weichen. Die Stadt wurde elektrifiziert und 
Einsatz von Maschinen und Düngemitteln ständig ab. Am Ende kanalisiert. Die neue Technik wirkte „stadtbildend”. Die Zentren 
des Jahrhunderts waren in der Landwirtschaft nur noch 38 % be- wurden nach wie vor von den Monumentalbauten des Adels be- 
schäftigt, in der Industrie 37 %, im Dienstleistungsbereich 25 % herrscht, auch wenn die alten Herren vertrieben wurden. In die 
(F.W. Henning). Der wachsende Industriesektor und der Dienst- barocke Verkleidung zogen die neuen Institutionen der bürgerli- 
leistungsbereich fingen — mit Verwerfungen — die aus der Land- chen Herrschaft, die Exekutive, Legislative, das Gericht. 
wirtschaft freigesetzte Bevölkerung auf. Auch innerhalb des Indu- In der Stadt und ihrer Gestalt hatte sich allerdings wenig von den 
striesektors fanden Umwälzungsprozesse statt, die neuen Indu- revolutionären Ideen, mit denen das Bürgertum gegen den Adel 
striezweige und -branchen fingen die aus den stagnierenden angetreten war, niedergeschlagen. Es gab wohl ideale Städte, auf- 
Grundstoffindustrien entlassenen Arbeitskräfte auf geklärte Pläne; hinreißende Programme. Aber die Realität sah an- 
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