Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

Lageplan rechte Seite: 
Dorfsiedlung Kaldenberg Eigenheim Voss 
mit Nachbargebäuden 
im Bau 
Rn 
= 
Koffein 
„Di, 
Alles in dieser Stadt ist Funktion echter Lebensbedürfnisse. Da einem Zentrum jenseits der Sterne, aus einem absolut metaphysi- 
gab es keine Prunksucht, keine Theorien und Doktrinen, Kunstge- schen Kern. Wir berühren im Verlauf unserer Betrachtung immer 
schwätz, Willkür, erklügelte Absichten. Die Bedürfnisse waren wieder diesen Punkt und von den verschiedensten Richtungen her, 
echt, waren lebensgemäß und damit auch zwangsläufig deren Be- immer von neuem werden wir zu der Feststellung genötigt, daß die 
friedigung. Erkenntnis der echten Bedürfnisse und die Fähigkeit des Men- 
Allerdings liegt in dieser Feststellung auch das ganze Geheimnis, chen, aus ‚der Masse des Angebotes das Verdauliche aufzuneh- 
der ganze Weg einer Kultur beschlossen: sie lebt in der Befriedi- Men, das ihm Gemäße zu sich heranzuziehen nicht mit dem 
gung echter Bedürfnisse. Rechenschieber zu erlangen ist, daß es sich auch nicht wie im Pflan- 
Und - dieses vorläufig nur nebenbei, wir werden es später ge- Zen- und Tierreich um eine Instinktleistung handelt, sondern daß 
nauer ins Auge fassen - das Problem unserer Tage besteht nicht die Entscheidung, was brauche ich, was brauche ich nicht, einzig 
darin, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um Bedürfnisse zube- Und allein aus der Würde des sittlichen Bewußtseins gefällt wird 
friedigen, sondern es besteht in der Besinnung auf die echten Be- Und - wie es Immanuel Kant formuliert - aus der Erkenntnis, daß 
dürfnisse und die Ausmerzung einer kranken, fehlgeleiteten und Unsere Pflichten göttliche Gebote sind, die sich im Menschen ver- 
überreizten Wunschwelt. nehmlich machen, wenn er in sich geht. 
„Wessen bedarf der Mensch?” Nun noch einen Blick auf unser Beispiel. Dinkelsbühl war ein 
Wir kommen nicht um die Erkenntnis herum, daß die Vernach- Stadtstaat alter Reichsfreiheit, der nie mehr als 1000 Familien Ein- 
lässigung dieser Frage, der Verzicht auf eine tiefere Beantwortung, Wohnerschaft gezählt hat, und doch dauerhafter gefügt war als 
der Verzicht darauf, diese Frage immer von neuem zu erheben, da- Weltreiche, trotzdem in dem Jahrtausend, die er besteht, das 
zu geführt hat, daß die technisierte Produktion, statt lebensge- Schicksal erbarmungslos beinahe jeder dritten Generation Blut, 
mäßen Bedarf zu decken, unter Aushungerung echter Bedürfnisse Brand, Krieg, Seuche, Erpressung und Armut wie Hammerschläge 
künstliche erzeugte. sandte, so daß man. vor einem Rätsel steht, wie eine Stadt dieses 
Die Frage nach den wahrhaften Lebensbedürfnissen steht so Unmaß an Leid nicht nur ertragen konnte, sondern jedesmal wie 
sehr im Brennpunkt unserer Betrachtung, daß doch an dieser Stel- in Phönix aus der Asche stieg. 
le, bevor wir noch einmal auf das Beispiel von Dinkelsbühl zurück- Nur ein Blatt aus seiner Geschichte: 
kommen, noch ein Wort darüber unseren späteren Ausführungen Nachdem im August 1645 die Franzosen nach sieben Tage wäh- 
vorweggenommen werden muß: rendem Bombardement die Stadt eingenommen und vandalisch 
Es erweist sich nämlich, wenn wir einmal zusammenstellen, wie verwüstet hatten, zog der Herzog von Enghien ein. Im November 
die verschiedenen Völker und Zeiten die Frage nach dem wahren aber belagerten die Bayern die eingeschlossenen Franzosen. Die 
Bedarf beantwortet haben, daß sie in einem übereinstimmen: Der Stadt erleidet die Schrecken einer neuen Eroberung. Es wird dann 
Mensch bedarf nur sehr weniger Dinge und Lebensumstände. Und alles wieder ausgebessert und der Kreislauf des bürgerlichen 
die Weisen aller Zeiten haben gesagt, glücklich ist der, der am Lebens setzt wieder ein. Kaum aber ist die Ernte geborgen, da bre- 
wenigsten bedarf. Der Bedürfnislose ist glücklich; d. h. derjenige, chen die Schweden ein mit Brand, Mord und Totschlag. Im Früh- 
der innerlich nicht an den Dingen haftet, der innerlich freie jahr kommen wieder die Bayern. Mit dem letzten Jahr des 30jähri- 
Mensch. Und nun kommt das merkwürdige Paradox, daß gerade die gen Krieges bricht die 'achte Belagerung, Eroberung und Ver- 
Zeiten wirklich blutvoller Lebensbejahung und -erfüllung durch- wüstung innerhalb eines Menschenalters über die Stadt. Die 
tränkt waren von dem, ich möchte sagen, würdevollen Bewußtsein, Schweden stehen wieder vor den Toren, beschießen die Stadt mit 
daß die Glücksgüter dieser Welt nur Leihgaben und schöne Zuta- glühenden Kugeln, die Tore fallen, die Plünderer dringen ein. Die 
ten sind, die sich sofort in ihr Gegenteil verkehren und schlimme längst dezimierte Bevölkerung muß maßlose Tribute abführen. 
Tyrannei ausüben, wenn der Mensch sein Herz daran hängt. Die Und dieses alles, nachdem 1635 zwei Drittel der Einwohnerschaft 
Zeiten dauerhafter, weltzugewandter und blutvoller Lebensaus- der Pest erlegen war, nachdem die aus allen Ecken Europas zusam- 
breitung waren nie materialistisch, sondern diese kraftstrotzenden mengeströmte Soldateska in den alten Besitztümern sich einge- 
oft wilden Energien, die Machtauseinandersetzungen, Streit und nistet und das reine Blut durch manchen Bastard belastet hatte. 
Händel nicht aus dem Wege gingen, sondern sie in Kauf nahmen Trotzdem hatte Dinkelsbühl bis 1800 wieder 280000 Gulden 
wie prächtige Tiere, alle diese Energien bezogen ihre Nahrung aus Kriegszuschüsse an das Reich geleistet. Und dann kamen die Heer- 
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