Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

Der ”Bauerndichter” „Noch haben wir” so seine Kritik an der bisherigen Politik der „Grü- 
Christian Wagner nen”, „das Standbein nicht von dem Karussell heruntergenommen. 
Noch haben wir nicht wirklich begonnen, den Mutterboden einer 
anderen, einer Friedenskultur zu erzeugen”. Für ihn ist die Kommu- 
ne vorweggenommenes Friedensreich und Trägerin eines neuen 
Heils. Er überspringt die säkularisierten Formen ländlicher Kom- 
munen im Abendland und knüpft mit seiner sozialistischen Religio- 
sität unmittelbar wieder an deren Anfänge in der mönchischen 
Ordensbewegung an: 
„Wir brauchen ein neues Benediktinertum. Es kann nur in einem kommunitären 
Rahmen sozial wirksam gedeihen. Noch fällt, was darin zusammenkommen muß, in 
religiöses und manchmal auch pseudoreligiöses Sektierertum hier und politisches 
Sektierertum dort auseinander, und einer der wesentlichsten Gründe dürfte sein, daß 
A den Polen die tragende soziale Mitte, der reale Lebenszusammenhang 
So wie der Kulturaufstieg Europas einst von den Klöstern als 
Gemeinschaftszentren neuer Religionstität und Geistigkeit aus- 
ging, so soll der „Aufbruch zur neuen Kultur” (Dieter Duhm) von 
Kommunen als Experimentier- und Pionierfeldern einer künftigen 
Skologischen Zivilisation seinen Anfang nehmen. 
Wenn 1983 die „Grünen” den Ausstieg aus Industrialismus und Ka- 
pitalismus und den „Einstieg ins Andersleben” vor allem durch 
kommunitäre Lebenspraxis erreichen wollen, dann wird hier eine 
erstaunliche Kontinuität subkultureller Tradition in Deutschland 
Wagner macht deutlich, daß die Vorstellung von Ökopax letztlichei- Sichtbar, bei welcher wiederum der radikale Pietismus durch seine 
ne religiöse Dimension hat, daß hier ein die gegebene staatliche Realisierungsversuche der urchirstlich-kommunistischen Liebes- 
und gesellschaftliche Ordnung transzendierender anarchischer g°meinde eine wesentliche Mittlerfunktion besitzt. Inzwischen hat 
Entwurf eines irdischen Friedensreiches konzipiert wird. Seine Sich innerhalb der „Grünen” eine „Bundesarbeitsgemeinschaft 
Wurzelgründe in der deutschen Geschichte lassen sich deutlich be- Kommune-Bewegung” gebildet; die erste „Kommune-Begegnung” 
stimmen: die Tradition reicht zurück zum romantischen Chiliasmus fand im Juni dieses Jahres auf Burg Stettenfels bei Heilbronn statt 
etwa von Novalis, der am Schluß von „Die Christenheit oder Euro- ) 5 wieder in Schwaben, dessen Bedeutung als en Zentrum 
pa” die „heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem ßeistrevolutionärer Bestrebungen damit erneut unterstrichen wird. 
die Hauptstadt der Welt sein wird”, beschwört; sie ist verwandt _Bahro bekannte sich dort in seinem Grundsatzreferat „Spirituelle 
mit dem „philosophischen Chiliasmus” eines Kant, wie er be- Gemeinschaft als soziale Intervention” ® ausdrücklich erneut zu ei- 
sonders in seiner Schrift ‚Vom ewigen Frieden” durchbricht; undsie ner religiösen Politik damit und zu einem Verständnis „grüner” Poli- 
fußt auf der vom deutschen Pietismus beschworenen religiösen Tra- ik als religiöser Heilsbewegung: „In letzter Instanz zielt die (...) Re- 
dition des tausendjährigen Gottesreiches der Freude und des Frie- Sensibilisierung für den Naturzusammenhang auf die Wiederher- 
dens. So ist „grüne” Politik bis heute weit mehr als bloß romantische Stellung der gestörten Harmonie, der Gesundheit im weitesten Sin- 
Gefühlsduselei, oder umgekehrt eine rein pragmatische Reaktion Ne, auf Heilung in dem Sinne ab, wo sie mit Heil zusammenhängt” 
auf Umweltgefährdung und -Zerstörung. Ihre dynamische Kraft Die apokalyptisch-chiliastische Dynamik der Ökopax-Bewegung 
zieht diese Bewegung vielmehr aus dem in ihr in säkularisierter kann aber nur dann ganz verstanden werden, wenn man sich verge- 
Form weiterlebenden Glauben an die Möglichkeit des Reiches Got- genwärtigt, daß sich hier ein traditionsverhaftetes Denken als Alter- 
tes auf Erden. So sehr auch das heutige „grüne” Programm die öko- native gegen die moderne hochentwickelte Industrie erhalten, ja 
logische Politik operationalisiert und konkretisiert - es kann nicht vielleicht gerade erst in Reibung mit dem Prozess der Hochindu- 
übersehen werden, daß hier von der Entstehungsgeschichte her strialisierung und deren Folgen eine zunehmende Bedeutung bis 
eine bestimmte Form politischer Religiosität weitererwirkt. heute gewonnen hat. Denn führen auch die geistigen Linien zurück 
Die hier behauptete Kontinuität apokalytisch-chiliastischer zum Pietismus und Idealismus, zu Klassik und Romantik, so organi- 
Denkmuster wird besonders offenkundig bei der seit fast einem Ssierte und politisierte sich dieses Denken doch erstmals um 
Jahrhundert in Deutschland diskutierten Frage, in welcher Gestalt 1900 im Wilhelminischen Reich. Die damalige „Neuromantik” (ein 
denn das ökologische Friedensreich als Solidargemeinschaft aller von Eugen Diederichs geprägter Ausdruck) ist nur verständlich als 
Lebewesen hier und heute Gestalt annehmen könne. Dazuheißtes Reaktion auf wesentliche sozialgeschichtliche Erscheinungen das 
in den auf der Bundesdelegiertenversammlung der „Grünen” im deutschen Kaiserreiches. Als solche müssen gesehen werden insbe- 
Januar 1983 wiederum in Schwaben, diesem traditionell pietistisch- sondere die auch im wilhelminischen Imperialismus sichtbar wer- 
radikalen Raum, verabschiedeten „Sindelfinger Beschlüssen”: ”%es dende „Dynamik einer Gesellschaft, die durch das Fortschreiten 
gehe darum, „ganzheitliche Gemeinschaftsprojekte” zu entwickeln, der Industrialisierung, den damit im Zusammenhang stehenden 
welche „alle Elemente alternativer Lebensgestaltung” verwirkli- Prozess der Urbanisierung und der steigenden Mobilität der Bevöl- 
chen und „ein Höchstmaß an Unabhängigkeit von herkömmlichen, kerung in einem Umbruch begriffen war, der sich in vielfältiger 
fremdbestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen zu ge- Weise auf soziale Verhaltensweisen auswirkte. !®”” Die deutsche Be- 
winnen”. Solche Gemeinschaften sollen „zu Keimzellen einer Vvölkerung wuchs von 41 Millionen im Jahre 1871, dem Zeitpunkt 
neuen sozial und ökologisch verantwortlichen Gesellschaft wer- der Reichsgründung, auf 49 Millionen 1890 und dann auf fast 65 
den”. Als Pilotprojekt stellen sich die „Grünen” den Aufbau deser- Millionen im Jahre 1910. Es gab damals ein weit überproportiona- 
sten „Ökodorfes” in der Bundesrepublik vor. Ein beigefügtes Foto les Wachstum der großen Städte über 100 000 Einwohner: 1871 leb- 
macht deutlich, daß als Muster einer solchen Keimzelle alternativer ten darin erst 4,8%, 1910 bereits 21,3% der Bevölkerung. Parallel da- 
Lebensformen die ländliche Kommune gemeint ist. zu kam es zu einem konstanten Rückgang der kleinen, meist ländli- 
Im Juni 1983 wurde diese Konzeption anläßlich der außer- chen Gemeinden mit unter 2000 Einwohnern: wohnten dort, 1871 
ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz der „Grünen” in Han- noch 63,9%, dann 1910 nur noch 40% der Bevölkerung. Hier wird 
nover in einer Arbeitsgruppe weiterverfolgt, © auf der sich insbe- neben dem Prozeß der Bevölkerungsvermehrung die Bedeutung 
sondere Rudolf Bahro (bekannt geworden als Kritiker des „realexi- der starken Binnenwanderung sichtbar, eine Entleerung des fla- 
stierenden Sozialismus” in seinem Buch „Die Alternative”) zum chen Landes zugunsten der Städte: 1907 etwa waren nur 40,5% der 
Vorkämpfer der Kommunen machte durch seine Ausführungen Einwohner Berlins auch dort schon geboren, der Rest zugewandert. 
„Kommune wagen. 10 Thesen über die Richtung der sozialen Alter- Dabei erreichte der Berliner Wanderungsgewinn in den Jahren 
native”. 7 1881 bis 1890 seinen Höhepunkt. 
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