Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

Tradition erscheint gründlich geläutert 
und verwandelt, wie es der Situation 
’nach der Kritik‘ angemessen ist. 'Mo- 
dern zu sein‘ gilt nicht mehr automatisch 
als Tugend. Eine solche scheint jetzt 
vielmehr in der Übernahme von Verant- 
wortlichkeiten zu liegen und in der 
Durchführung von Aufgaben, die cha- 
rakteristisch sind für einen ’modernen 
Bedingungszusammenhang‘, der hart- 
náckig fortexistiert.« (Banham '86) 
»Liest man de Zurko oder seinen eu- 
ropäischen Gleichgesinnten Charalam- 
bos Sfaellos, so wird man von Titel zu Ti- 
tel ermüdend gewahr, daß es Nicht- 
Funktionalismus ... niemals geben 
kann. Beide machen deutlich, daß nach 
ihrer Einsicht Funktionalismus das ist, 
was Architekten immer praktiziert ha- 
ben, einfach indem sie Architektur 
praktizierten. Solch ein Eindruck kann 
leicht durch das selektive Zitieren von 
jedermann von Vitruv bis Violet-le-Duc 
hervorgerufen werden, aber es verkürzt 
die Architektur, die immer mehr bein- 
haltete als die Anpassung an benannte 
Funktionen und es verkürzt den Funk- 
tionalismus, der sichtbar mehr ist als nur 
das, was Architekten immer irgendwie 
getan haben. Was den Funktionalismus 
in unserer Zeit besonders zu charakteri- 
sieren scheint, ist die Bereitwilligkeit es 
zu versuchen, für Funktionen und Be- 
dürfnisse zu entwerfen, die zu exotisch 
oder innovativ sind, als daß sie gedan- 
kenlos in herkömmliche typologische 
Formen gepreßt werden könnten. Denn 
zu vieles von dem, was in diesem Jahr- 
hundert als funktionalistisch gepriesen 
wurde, war kaum mehr, als daß alles und 
jedes in gedankenlose Standardverpak- 
kungen gestopft wurde. Kein Wunder, 
daß der sogenannte Funktionalismus ei- 
nen schlechten Ruf bekam, insbesonde- 
re, wenn diese Verpackungen einem 
festgelegten Stil folgen mußten.« (Ban- 
ham ’82) 
»Obenan steht bei diesen Aufgaben 
und Verantwortlichkeiten, eine Archi- 
tektur zu entwickeln, welche ihrer Zeit 
angemessen ist. Und das ist eine Aufga- 
be, welche — entgegen Richard Rogers' 
öffentlich ausgedrücktem Wunsch nach 
einer ' Architektur ohne Ironie' — im Fal- 
le von Lloyd's eine Monster-Ironie her- 
vorgebracht hat . . . Aber innerhalb des 
"Projekts! (wie der gegenwärtig akade- 
mische Jargon das nennen würde) Ar- 
chitektur modern zu machen, lauert die 
grundlegendere Aufgabe, moderne Ge- 
báude zu machen, d. h. Entwurfs- und 
Produktionsmethoden zu entwickeln, 
die der Gegenwart angemessen sind. Zu 
oft galt in der vereinfachenden Propa- 
ganda der Vergangenheit der bloBe Ge- 
brauch eines als modern angesehenen 
Materials — typischerweise Stahl, Beton 
oder Glas — als ausreichend, um diesen 
Kriterien zu genügen, ohne daß beach- 
tet worden wäre, daß die Anwendung ei- 
nes als richtig anerkannten Materials 
nicht aus sich heraus eine als richtig an- 
erkannte Architektur  hervorbrinet 
Oder gar alles andere als Architektur, 
wie der technisch brilliante, aber stili- 
stisch entgleiste Gebrauch von Beton 
bei Ricardo Bofills Massenwohnungs- 
bauten nur allzu klar werden läßt. 
Wenn man zurückblickt auf die als 
Pioniere fungierenden Konstrukteure/ 
Architekten der Moderne — solche wie 
Auguste Perret oder Mies van der Rohe 
— sieht man, daß der derzeit aktuelle Stil 
und die aktuelle Technologie der Mate- 
rialverwendung fragwürdig sind. Es gibt 
eine notwendige (wenn auch nie zu er- 
forschende) Verbindung zwischen der 
Behandlung der einzelnen Materialstük- 
ke und der architektonischen Qualität 
des Gebäudes, die daraus resultiert. Die 
Lektion der Meister ist, daß der Archi- 
tekt die Verantwortung für die Qualität 
jedes einzelnen Gebäudeteils nicht um- 
gehen kann, selbst wenn es sich um 
standardisierte und vorfabrizierte Ele- 
mente handelt, wie etwa Mauersteine 
oder ein patentiertes Verglasungssy- 
stem.« (Banham ’86) 
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... UND DIE ARCHITEK- 
TUR OBSIEGT 
D: architektonische Effekt von 
» Inmos ist wahrhaftig spektakulär 
genug. Der Spazierweg entlang des 
Hauptservicedecks über Dachniveau 
bietet die erstaunlichste Begegnung mit 
der reinen Mechanik wirklich moderner 
Architektur, die man machen kann. 
Und wenn man weiter im Detail forscht, 
indem man innerhalb einer der Service- 
gehäuseschachteln hinaufgeht und 
durch die Luke auf ihr Dach steigt, um 
zu der Leiter zu gelangen, die auf das 
Deck darüber führt, von dem aus man 
die logische, doch komplizierte Ord- 
nung des Röhrenwerks auf dem Dach 
überblicken kann, dann steht man da 
und versucht das treffende und spre- 
chende Bild zu erfühlen, das nicht 
(schon wieder!) auf die Ahnlichkeit mit 
dem Schiff hinausläuft. 
Im buchstäblichen Sinn des Worts ist 
die Architektur nicht schiffsähnlich. 
Aber hinter dieser Metapher steckt ein 
ernstzunehmendes historisches Gewicht 
und sie verweist uns auf die tatsächli- 
chen Quellen der funktionalistischen 
Kritik. War es doch Horatio Greenough 
selbst, der sagte: "Beobachten Sie ein 
Schiff auf See! Beachten Sie die majestá- 
tische Form seines Rumpfes . . . die an- 
mutige Kurve seines Kórpers, der sanfte 
Übergang von rund zu flach, die Kraft 
seines Kiels, den Schwung seines Bugs 
und (hier kommt Inmos ins Spiel) die 
Symmetrie und das reiche MaBwerk der 
Spieren und der Takelage . . .' Diese ge- 
bieterische Formulierung der 'groBen 
Gesetze von Notwendigkeit und Kunst 
scheint für etwas so wohlbegründetes, 
dicht gepacktes und straff getakeltes wie 
Inmos zwangsweise zutreffend. - Ge- 
nauer: die Überzeugungskraft, die fast 
jeder Teil des Entwurfs ausstrahlt, 
scheint wie bei jeder Schiffsarchitektur 
einem Sinn für Notwendigkeit zu ent- 
springen, einem Gefühl, da nichts an- 
ders sein kónnte, als es ist. Und wie beim 
besten nautischen Entwurf ist viel von 
dieser Notwendigkeit rhetorisch (die 
Art, wie die Dinge sein sollten) oder 
abergláubisch (die Art, wie die Dinge als 
richtig empfunden werden) und zwar ge- 
nauso háufig, wie sie rational oder prag- 
matisch begründet ist. Die Hauptsache 
aber ist, daB Notwendigkeit dem Ver- 
standnis nach einfach da ist. Nimmt man 
sie fort, dann wird unmittelbar deutlich, 
dab heute nicht die Tage von Gree- 
noughs Yankee Klipper sind und eben 
auch nicht die des Internationalen Stils, 
als unbefragte Gewohnheiten oder rigi- 
de Reglen den Entwerfer über das kahle 
Feld führten, wo die Notwendigkeit der 
Kunst nicht zu Hilfe kommen konnte.« 
Banham äuBert sich im folgenden 
über die aufenliegende chemische Aus- 
rüstung von Inmos in Form von Tanks, 
Pumpen, DruckgefáBen usw., die von 
»gewissen sensiblen Seelen als häßlich 
und als unangemessen für die Integrität 
eines architektonischen Entwurfs emp- 
funden werden . . . Jedoch hat der 'che- 
mische Schrott‘ auch einige Bedeutung 
gewissermaßen als ’Säuretest‘ des Funk- 
tionalismus. Historisch gesehen handelt 
es sich um eine Klasse von Objekten, die 
das Nautische als erstrebenswertes 
Schónheitsideal des funktionalen Ent- 
wurfs immer mehr verdrángt hat. In der 
Tat zeigt die einzige Illustration zu Ed- 
ward de Zurkos entscheidendem Text 
'Die Ursprünge der funktionalen Theo- 
rie‘ (1957) eine Reihe von katalytischen 
Druckgefäßen einer Gasraffinerie in Te- 
xas. Der Text dazu liest sich auszugswei- 
se wie folgt: ’Der glühende Funktiona- 
list behauptet, daß Schönheit oder zu- 
mindest eine Art formaler Vollendung 
sich automatisch aus der perfekten me- 
chanischen Leistungsfähigkeit ergibt 
. . . (diese) Gasraffinerieausrüstung ist 
eine überzeugende Demonstration die- 
ses Standpunkts.' Ob solcher Eifer das 
Rogers-Büro kollektiv oder sonstwie 
verzehrt, berührt uns hier letztlich nur 
am Rande. Aber jeder, der mit einem 
Unternehmer vom Typ Iann Barron (In- 
mos-Chef) Geschäfte machen will, muß 
’besser gut darin sein. funktionalen 
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