Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

Konrad Wohlhage 
DIE ARCHITEKTUR 
DES LEERRAUMS 
„Wer an Architektur denkt, versteht darun- 
ter zunächst immer die Bauglieder, die Fas- 
saden, die Säulen, die Ornamente, und 
doch kommt das alles nur in zweiter Linie. 
Das wirksamste ist nicht die Form, sondern 
die Umkehrung, der Raum, das Leere, das 
sich rhythmisch zwischen den Mauern aus- 
breitet, von ihnen begrenzt wird, aber des- 
sen Lebendigkeit wichtiger ist als die Mau- 
ern. Wer den Raum empfinden kann, seine 
Richtungen und seine Maße, wem diese Be- 
wegungen des Leeren Musik bedeuten, 
dem ist der Zugang zu einer beinahe unbe- 
kannten Welterschlossen" (August Endell: 
Die Schónheit der grofien Stadt)’. 
S ie sei —so Endell — die Welt des Archi- 
tekten und des Malers, für welche die 
Leere des Raumes formbare Materie ist 
und die sein Volumen kneten kónnen, um 
in ihm Bewegung entstehen zu lassen. En- 
dell setzt Raum mit Leere gleich und meint 
damit seine inhaltliche Unbestimmtheit. 
Indem er Hülle und Leerraum gleichzeitig 
ist, kann ibm jeder Einzelne ein Thema ge- 
ben, durch eigene Projektionen ihm Be- 
deutung verleihen. Dieses Merkmal gilt 
für den Außenraum wie den Innenraum, 
für öffentliche wie für private Bestimmun- 
gen gleichermaßen. Erst seine „Unbe- 
setztheit“ macht einen Raum brauchbar. — 
Doch die „Tyrannei der Intimität“ 
(Sennet)* hat unser öffentliches Leben er- 
obert und aus Angst vor den unbesetzten 
Leerräumen Straßen, Plätze und städti- 
sche Felder aufgeteilt in Funktionsberei- 
che und möbliert wie die gute Stube. Der 
freie Raum verkümmert zusehens aus 
Angst vor der Ambiguität, der Vieldeutig- 
keit eines Ortes, der diejenigen bedroht, 
die sich fürchten vor dem Ungeplanten 
und somit Unbeherrschbaren. Die Angst 
vor der Anonymität des Öffentlichen 
zerbricht die komplexe Form und die Viel- 
fältigkeit. 
Der öffentliche Straßenraum muß be- 
setzbar bleiben für die verschiedenen Ent- 
würfe und Erklärungen, wie der Innen- 
raum frei sein muß für persönliche 
Wunschbilder, imaginäre oder auch ganz 
konkrete aus Gips und Kokosmatten. Nur 
so bleibt ein Raum, ein Gebäude, eine 
Stadt anwandelbar und schafft — ohne de- 
vot zu sein — Platz für ständig wechselnde 
Programme. Die Poesie eines Ortes ent- 
steht weder durch zweckdienliche Ein- 
richtung, noch durch ein aufdringliches 
Bild. 
Poesie des Leerraums 
E in heutiges Verständnis von Archi- 
tektur beschränkt das Fach auf die 
Fassadengestaltung, genau auf den Teil 
des Bauwerks, der immer wieder verän- 
dert wird, und nicht etwa auf das, was Be- 
stand hält, nämlich seine innere Struktur. 
Dabei ist Architektur nicht Oberflächen- 
ästhetisierung, sondern ganzheitliche 
Konzeptgebung eines Gebäudes; sie ist — 
Architektur des Leerraums - vornehmlich 
Hülle und Raum, immer aufs neue wer- 
bend für einen Inhalt. Anders gesagt, die 
stándig wechselnden oder sich verändern- 
den Programme stádtischen Lebens, ge- 
sellschaftlicher Bedürfnisse, wirtschaftli- 
cher Nutzungen, also die Inhalte funktio- 
neller und semantischer Art, fordern eine 
Architektur der Anverwandlungen und 
der Vieldeutigkeit. Sie muf sich besinnen 
auf die Aufgabe, Hülle zu sein und im In- 
nern Struktur zu formen. Wenn Architek- 
tur hierbei mehr bedeutet als nur Trag- 
werk, dann kann jene Leere entstehen, 
deren Poesie nicht in der eindeutigen Bild- 
haftigkeit des Raums liegt, sondern in der 
vieldeutigen Art, ihn lesen zu kónnen. 
Das Thema des Leerraums berührt 
auch das Phánomen der Bautypen, denn 
ihre Klassifikation ist ebensowenig abhàn- 
gig von einer Nutzung oder Ikonographie. 
Die Typologie redet vom Leerraum, der 
umgedeutet werden kann, sie meint nicht 
deren Gebrauch. Darum zeigt sich die 
„Permanenz“ der Städte nicht in der Art 
ihrer Nutzung, sondern in ihren typolo- 
gisch bestimmten Bauformen. 
Der Freie Grundriß, eine Notwendig- 
keit der Industrialisierung?, und über hun- 
dert Jahre spáter von Le Corbusier und 
Mies zu einem theoretischen Konzept er- 
hoben, setzt eine freie Tragstruktur vor- 
aus. Sie ist kein Gitternetz aus architekto- 
nischer Anspruchslosigkeit, sondern um- 
gibt die noch gar nicht festgestellte Nut- 
zung mit einem hohen Maf) an Raumer- 
lebnis. In der Neuen Nationalgalerie in 
Berlin wird die Tragstruktur schließlich 
selbst Repräsentation: ein minimaler Ein- 
heitsraum mit einem Maximum an Allü- 
ren, der „pur“ kaum nutzbar ist. Für jede 
Ausstellung muß der Raum erst geschaf- 
fen werden — dem war sich Mies durchaus 
bewußt. — „Um zu den überzeugenden In- 
nenräumen seiner (Mies’) späten Jahre zu 
gelangen, waren umhüllende Strukturen 
von untadeliger Integrität erforderlich. 
Deren rationale Komposition führte je- 
doch schließlich zu einem nichtrationalen 
Ergebnis: Die Vernunft erhob sich in den 
Bereich des Mystischen.““* 
Die Forderung an den Architekten lau- 
tet, die Hülle zum Raum werden zu lassen, 
eine vielfáltig nutzbare, dennoch bestim- 
mende und im hohen Maße abstrakte Um- 
hüllung zu schaffen, die im Konflikt mit 
den sich ständig wandelnden Nutzungen 
nicht den kürzeren zieht, sondern immer 
prägend bleibt. 
Historische Universalráume 
A lle óffentlichen und repräsentativen 
historischen Gebáude waren wegen 
ihres mehrdeutigen Gebrauchs bemüht, 
einen entsprechend abstrakten Raumplan 
zu entwickeln. Allein ihre ikonographi- 
schen Programme waren eindeutig. Sie 
machten aus dem Universalraum der goti- 
schen Kathedrale - densie gemáf) der Poli- 
tik des Bauherrn überhóhten - das Abbild 
des Himmels; sie gaben den geometri- 
schen Raumfolgen palladianischer Villen 
erst ihren Herrschaftsanspruch, námlich 
die Kultivierung des Bodens zur Kultur zu 
erheben. 
Die Forderung nach ,bildlosen* Ein- 
heitsráumen, nach einer Architektur des 
Leerraums, nahm zu mit der Entwicklung 
der Industrie, des Tertiären Sektors, der 
schnell sich wandelnden Bedürfnisse im 
medizinischen, kulturellen, pädagogi- 
schen Bereich. Sie entkleidete die Archi- 
tektur von den herkömmlichen Bildpro- 
grammen. Sie konfektionierte Fassaden 
und Innenräume, sie neutralisierte, um je- 
de ideologische‘ Konfrontation zu vermei- 
den: Der ständig wechselnde Inhalt durfte 
nichtin Konflikt geraten mit seiner Hülle. 
Dieser ideologische Anspruch, gepaart 
mit der Erfindung des Aufzugs, der den 
Öffentlichen Grund und Boden verviel- 
facht, ließ schließlich einen neuen Bautyp 
entstehen, der diese Forderung perfekt 
vertritt: den Wolkenkratzer. 
Wolkenkratzer 
E rist der Protagonist unter den Gebäu- 
den. die verschiedenste. stets wech- 
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