Konrad Wohlhage
DIE ARCHITEKTUR
DES LEERRAUMS
„Wer an Architektur denkt, versteht darun-
ter zunächst immer die Bauglieder, die Fas-
saden, die Säulen, die Ornamente, und
doch kommt das alles nur in zweiter Linie.
Das wirksamste ist nicht die Form, sondern
die Umkehrung, der Raum, das Leere, das
sich rhythmisch zwischen den Mauern aus-
breitet, von ihnen begrenzt wird, aber des-
sen Lebendigkeit wichtiger ist als die Mau-
ern. Wer den Raum empfinden kann, seine
Richtungen und seine Maße, wem diese Be-
wegungen des Leeren Musik bedeuten,
dem ist der Zugang zu einer beinahe unbe-
kannten Welterschlossen" (August Endell:
Die Schónheit der grofien Stadt)’.
S ie sei —so Endell — die Welt des Archi-
tekten und des Malers, für welche die
Leere des Raumes formbare Materie ist
und die sein Volumen kneten kónnen, um
in ihm Bewegung entstehen zu lassen. En-
dell setzt Raum mit Leere gleich und meint
damit seine inhaltliche Unbestimmtheit.
Indem er Hülle und Leerraum gleichzeitig
ist, kann ibm jeder Einzelne ein Thema ge-
ben, durch eigene Projektionen ihm Be-
deutung verleihen. Dieses Merkmal gilt
für den Außenraum wie den Innenraum,
für öffentliche wie für private Bestimmun-
gen gleichermaßen. Erst seine „Unbe-
setztheit“ macht einen Raum brauchbar. —
Doch die „Tyrannei der Intimität“
(Sennet)* hat unser öffentliches Leben er-
obert und aus Angst vor den unbesetzten
Leerräumen Straßen, Plätze und städti-
sche Felder aufgeteilt in Funktionsberei-
che und möbliert wie die gute Stube. Der
freie Raum verkümmert zusehens aus
Angst vor der Ambiguität, der Vieldeutig-
keit eines Ortes, der diejenigen bedroht,
die sich fürchten vor dem Ungeplanten
und somit Unbeherrschbaren. Die Angst
vor der Anonymität des Öffentlichen
zerbricht die komplexe Form und die Viel-
fältigkeit.
Der öffentliche Straßenraum muß be-
setzbar bleiben für die verschiedenen Ent-
würfe und Erklärungen, wie der Innen-
raum frei sein muß für persönliche
Wunschbilder, imaginäre oder auch ganz
konkrete aus Gips und Kokosmatten. Nur
so bleibt ein Raum, ein Gebäude, eine
Stadt anwandelbar und schafft — ohne de-
vot zu sein — Platz für ständig wechselnde
Programme. Die Poesie eines Ortes ent-
steht weder durch zweckdienliche Ein-
richtung, noch durch ein aufdringliches
Bild.
Poesie des Leerraums
E in heutiges Verständnis von Archi-
tektur beschränkt das Fach auf die
Fassadengestaltung, genau auf den Teil
des Bauwerks, der immer wieder verän-
dert wird, und nicht etwa auf das, was Be-
stand hält, nämlich seine innere Struktur.
Dabei ist Architektur nicht Oberflächen-
ästhetisierung, sondern ganzheitliche
Konzeptgebung eines Gebäudes; sie ist —
Architektur des Leerraums - vornehmlich
Hülle und Raum, immer aufs neue wer-
bend für einen Inhalt. Anders gesagt, die
stándig wechselnden oder sich verändern-
den Programme stádtischen Lebens, ge-
sellschaftlicher Bedürfnisse, wirtschaftli-
cher Nutzungen, also die Inhalte funktio-
neller und semantischer Art, fordern eine
Architektur der Anverwandlungen und
der Vieldeutigkeit. Sie muf sich besinnen
auf die Aufgabe, Hülle zu sein und im In-
nern Struktur zu formen. Wenn Architek-
tur hierbei mehr bedeutet als nur Trag-
werk, dann kann jene Leere entstehen,
deren Poesie nicht in der eindeutigen Bild-
haftigkeit des Raums liegt, sondern in der
vieldeutigen Art, ihn lesen zu kónnen.
Das Thema des Leerraums berührt
auch das Phánomen der Bautypen, denn
ihre Klassifikation ist ebensowenig abhàn-
gig von einer Nutzung oder Ikonographie.
Die Typologie redet vom Leerraum, der
umgedeutet werden kann, sie meint nicht
deren Gebrauch. Darum zeigt sich die
„Permanenz“ der Städte nicht in der Art
ihrer Nutzung, sondern in ihren typolo-
gisch bestimmten Bauformen.
Der Freie Grundriß, eine Notwendig-
keit der Industrialisierung?, und über hun-
dert Jahre spáter von Le Corbusier und
Mies zu einem theoretischen Konzept er-
hoben, setzt eine freie Tragstruktur vor-
aus. Sie ist kein Gitternetz aus architekto-
nischer Anspruchslosigkeit, sondern um-
gibt die noch gar nicht festgestellte Nut-
zung mit einem hohen Maf) an Raumer-
lebnis. In der Neuen Nationalgalerie in
Berlin wird die Tragstruktur schließlich
selbst Repräsentation: ein minimaler Ein-
heitsraum mit einem Maximum an Allü-
ren, der „pur“ kaum nutzbar ist. Für jede
Ausstellung muß der Raum erst geschaf-
fen werden — dem war sich Mies durchaus
bewußt. — „Um zu den überzeugenden In-
nenräumen seiner (Mies’) späten Jahre zu
gelangen, waren umhüllende Strukturen
von untadeliger Integrität erforderlich.
Deren rationale Komposition führte je-
doch schließlich zu einem nichtrationalen
Ergebnis: Die Vernunft erhob sich in den
Bereich des Mystischen.““*
Die Forderung an den Architekten lau-
tet, die Hülle zum Raum werden zu lassen,
eine vielfáltig nutzbare, dennoch bestim-
mende und im hohen Maße abstrakte Um-
hüllung zu schaffen, die im Konflikt mit
den sich ständig wandelnden Nutzungen
nicht den kürzeren zieht, sondern immer
prägend bleibt.
Historische Universalráume
A lle óffentlichen und repräsentativen
historischen Gebáude waren wegen
ihres mehrdeutigen Gebrauchs bemüht,
einen entsprechend abstrakten Raumplan
zu entwickeln. Allein ihre ikonographi-
schen Programme waren eindeutig. Sie
machten aus dem Universalraum der goti-
schen Kathedrale - densie gemáf) der Poli-
tik des Bauherrn überhóhten - das Abbild
des Himmels; sie gaben den geometri-
schen Raumfolgen palladianischer Villen
erst ihren Herrschaftsanspruch, námlich
die Kultivierung des Bodens zur Kultur zu
erheben.
Die Forderung nach ,bildlosen* Ein-
heitsráumen, nach einer Architektur des
Leerraums, nahm zu mit der Entwicklung
der Industrie, des Tertiären Sektors, der
schnell sich wandelnden Bedürfnisse im
medizinischen, kulturellen, pädagogi-
schen Bereich. Sie entkleidete die Archi-
tektur von den herkömmlichen Bildpro-
grammen. Sie konfektionierte Fassaden
und Innenräume, sie neutralisierte, um je-
de ideologische‘ Konfrontation zu vermei-
den: Der ständig wechselnde Inhalt durfte
nichtin Konflikt geraten mit seiner Hülle.
Dieser ideologische Anspruch, gepaart
mit der Erfindung des Aufzugs, der den
Öffentlichen Grund und Boden verviel-
facht, ließ schließlich einen neuen Bautyp
entstehen, der diese Forderung perfekt
vertritt: den Wolkenkratzer.
Wolkenkratzer
E rist der Protagonist unter den Gebäu-
den. die verschiedenste. stets wech-
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