selnde Nutzungen in sich aufnehmen, oh-
ne daß diese untereinander oder mit seiner
Architektur in Konflikt geraten. Der Wol-
kenkratzer hat die endlose Stapelung óf-
fentlichen Raums ermóglicht, indem er je-
de Etage gleichermaßen leicht zugänglich
macht und durch die Anonymität seiner
Architektur den verschiedenen Nutzern
untereinander unbedingte Diskretion ge-
währt. Wie sonst nur eigenständige Ge-
bäude nebeneinander, ermöglicht er die
vertikale Schichtung der widersprüchlich-
sten Inhalte, ohne irgendeinen Harmoni-
sierungsversuch oder eine Beeinflussung
der ständig wechselnden Belegung.
Im Wolkenkratzer hat die Architektur
die letzte Kontrolle über ihren Inhalt ver-
loren. Wie jungfráuliches Baulandist jede
Etage immer wieder neu zu beziehen. Ar-
chitektur ist hier nur noch Begrenzung.
Sie ist der verlängerte Arm des stádtischen
Rasterplans, der - ohne den Versuch einer
hóheren Ordnung - miteinander verbin-
det, was sich eigentlich feind ist. Hier le-
ben nebeneinander die widersprüchlich-
sten Weltanschauungen, ohne in Kontakt
treten zu müssen.
Wie diese ,staatsferne", unhierarchi-
sche Ordnung der Stadt, mußte auch der
Wolkenkratzer als ein Stück unsentimen-
tale, unmoralische Architektur in Ameri-
ka erfunden werden: Die Hochhäuser als
konsequente Erfüllung städtebaulicher
Vorgaben. Doch umgekehrt beeinflußte
nicht nur der Städtebau den Gebäudetyp,
der ihm folgte, denn der Wolkenkratzer
hat ebenso Konsequenzen für den Ur-
banismus: er ist seiner ständig wechseln-
den Nutzung wegen ein „großer städti-
scher Destabilisator* (Koolhaas) Mit
dem gewöhnlichen, unspektakulären
Austausch seines Innenlebens ändert
gleichzeitig ein großer Teil des Stadtbe-
zirks seine Inhalte.
Ohne irgendeinen Einfluß auf die Ge-
setzgebung, wie Flächennutzungspläne
oder ähnliches, werden mit den Inhalten
der Hochhäuser auch die Inhalte der Stadt
ausgewechselt. Die Geschosse der Wol-
kenkratzer sind wie die Rasterblöcke zwi-
schen den Straßen ideologische Leerräu-
me, deren Inhalt weder von der Architek-
tur, noch vom Developer kontrolliert
wird, einzig abhängig vom Mietpreis pro
Quadratmeter. Der Spekulant als Städte-
bauer, dem es nicht um Inhalte, sondern
um Profit geht, tritt hier völlig unbemän-
telt auf.
Ebenso wie der Rasterplan amerikani-
scher Städte keine dreidimensionale
Stadtbaukunst im europäischen Sinne ist,
in ganzheitlicher Proportion von Straßen
und Bebauung, zeigt auch die Form des
Hochhauses keinen Zusammenhang mit
der eigenen Nutzung. Die semantische
Verbindung von Innen und Außen bliebin
Amerika unbekannt.
Die Gretchenfrage, wie man einen Wol-
kenkratzer abreißt, stellt sich also gar
nicht, denn er ist immer wieder umzunut-
zen. Seine Architektur gerät nie in Kon-
flikt mit dem Inhalt. Das ist eines seiner
Konzepte. Die Konfektionierung seiner
Räume entspricht den ökonomischen und
ideologischen Forderungen.
Zwar ist der Wolkenkratzer als Bautyp
aus diesem Geist geboren, doch was die
Konfektionierung der Räume angeht, de-
ren Umnutzung und Interpretierbarkeit,
trifft das genauso auf die heutigen durch-
genormten Schulen, Krankenhäuser oder
Sozialwohnungen zu. Nur ist ihre Archi-
tektur in hohem Maße sentimental und hi-
storisch belastet, versucht also weiterhin
bildhaft „Schule“, „Krankenhaus“ oder
„großbürgerliches Wohnhaus“ zu sein.
Der virtuelle Raum
E s ist nicht erst eine Erscheinung unse-
rer Zeit, daß sich Innenräume än-
dern, wenn die Bewohner wechseln. Neu
sind nur die Mittel, mit denen Räume er-
zeugt werden. Aus den Möbeln von einst
sind komplette Systeme geworden, Räu-
me als Möbel, mit einem Minimum an
Masse oder gar — im Zeitalter der Licht-/
Holografie-/ Videokunst — vollkommen
entmaterialisiert. Wenn in der Disco das
Licht ausgeht, ist auch ihr Raum ver-
schwunden und man wird desillusioniert;
was bleibt ist dann nur ein Kater.
Die Forderung nach dem wandelbaren
Gebäude ist ebenfalls nichts Neues, neu ist
nur der Anspruch auf Bildlosigkeit, denn
die Inhalte des ikonografischen Pro-
gramms erledigen zunehmend die Medien
und das kunstvolle Licht. Innenräume
sind nicht länger Stuck auf Stroh und
Holzlatten, sondern perfekt simulierende
Projektionen. Der am weitesten verbrei-
tete illusionäre Raum ist allerdings der
Fernsehschirm, der Raum im Raum.
Die Architektur des Leerraums findet
im „abstrakten“ Raum ihre Erfüllung,
doch ist er selten als ein solcher vollendet.
Er bedarf einer Vorstellung, um Bedeu-
tung zu erlangen. Er muß erst „einge-
ráàumt" werden, durch Imagination oder
durch Einbauten. Scheinbar betrifft nur
das letzte den Architekten. doch ange-
sichts der immer perfekter werdenden Il-
lusionskunst der Medien, der Lichtkunst,
der Laserinstallationen und der Hologra-
fie nähern wir uns Schritt für Schritt dem
ersten — der Illusion. Spiegel und Licht sind
die Bausteine des virtuellen Raumes, die
nicht mehr der Materie oder der Schwer-
kraft gehorchen.
Der dauerhafte Raum verschwindet zu-
gunsten von kurzlebigen Zustánden, Mo-
mentaufnahmen, Sequenzen. Er wird ent-
materialisiert durch Licht und Projektion.
Sein Bild wird von neuen Gesetzen der
Wahrnehmung bestimmt: denen des
Films, denen der Verflüchtigung. Raum
ist nicht mehr nur Rahmen für Bewegung,
er verwandelt sich und wird selbst zur un-
mittelbaren Aktion.
Erst durch Licht wird Architektur sicht-
bar, das hat Le Corbusier schon festge-
stellt, doch meinte er wohl die Bewegung
der Sonne, die seine weißen Kuben mo-
dulierte, nicht die Lichtkunst, die Räume
vollständig ersetzen kann und reprodu-
zierbar macht, die Räume aus Tricks, Ef-
fekten und optischen Täuschungen baut
Der Wegfall der Materie — und sei es
auch nur teilweise — berührt die Architek-
tur fundamental. Woher kommen ihre
„Bilder“, ihre Bezüge, wenn diese simu-
lierbar, reproduzierbar und beliebig zu
verfremden sind, wenn ihre Abhángigkeit
vom konkreten Raum immer loser wird?
Was bedeuten sie, wenn sie synthetisch
entstehen, vóllig beliebig, frei von der
Bindung an die alte Aufgabe „Haus“ zu
sein und frei von jeglicher sozialer Rele-
vanz?
Sie werden nicht mehr auf dem Feld der
Baukunst geerntet oder sind die Manifes-
tation einer gesellschaftspolitischen Auf-
gabe. Der virtuelle Raum dient in den
meisten Fällen kommerziellen Zwecken
und sucht seine Vor-Bilder im Film oder in
der Werbung, dort, wo Raum zur totalen
Projektion wird. Die architektonische
Aussage, verpackt in einer attraktiven Mi-
schung aus Traumwelt und Sensation,
wird beschränkt auf Klischees, auf die Er-
füllung einer Sehnsucht nach Heimat und
Identität. Gesellschaftliche wie architek-
tonische Leitbilder des Films sind eine
Wurzel der populären Architektur. Die
Suche nach Geborgenheit ist in seinen Kli-
schees kommerziell geworden. Das Bild
der Architektur für die Massen wird ohne
Architekten entworfen. Es ist die anony-
me Architektur der heutigen Zeit (archi-
tecture without architects).
Man kann resümieren, daß zwei wichtı-
ge Aufgaben von der zeitgenössischen Ar-
chitektur vernachlässigt werden, da sie
mit all ihrer Kraft die Fassaden gestaltet
und versucht, sie zum Reden zu bringen:
Zum einen ist es die konzeptionelle Ge-
staltung des Innern, die mehr ist als Trag-
struktur oder Normerfüllung, zum andern
die Beschäftigung mit der Kunst des virtu-
ellen Raums.
Die Architekten haben sich zurückgezo-
gen von den Experimentierfeldern, sie sind
.bescheiden^* geworden. Sie haben sich
auf das steinerne Dekor der Fassaden ge-
worfen, sie überlassen den konzeptionel-
len Aufbau des Innern den Betonskelett-
Konstrukteuren und die Einrichtung und
Ikonographie der Räume den Dekorateu-
ren und Lichtkünstlern. In dieser Zeit je-
doch, in der daran gearbeitet wird, Mate-
rie zu ersetzen, wird Wegwerfarchitektur
zum immer prägenderen Teil der Umwelt
und gehört damit zum Aufgabenfeld der
Architektur. Der virtuelle Raum, die Pro-
jektion, die endlose Reproduktion und
die Geschwindigkeit sind zu Dimensionen
der Baukunst geworden.
Anmerkungen:
1) August Endell: Die Schönheit der großen Stadt, Ar-
chibook-Verlag, Berlin 1984 (Erstausgabe: 1908) S. 51
2) Richard Sennett: Verfall und Ende des óffentlichen
Lebens. Die Tyranneider Intimitàt. S. Fischer Verlag.
Frankfurt a.M. 1983
3) vgl. Wolfgang Wagener: Kleines Glossar zur Ge
schichte des Details. in ARCH" 87 über den Skelett-
bau
4) Franz Schulze: Mies van der Rohe - Leben und
Werk (Ausstellungskatalog). Berlin 1986, S.332
5) Rem Koolhaas: Delirious New York, New York
1978. S. 68 ff The Frontier in the Sky
6) vgl. ARCH' 87S. 5ff Die Welt istreiffür den Archi-
tekten als Visionär — Maaskant-Preis für Koolhaas:
„Der fatale Schluß ... daß die Architektur eine be-
&cheidene Disziplin werden soll.. "
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