Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

selnde Nutzungen in sich aufnehmen, oh- 
ne daß diese untereinander oder mit seiner 
Architektur in Konflikt geraten. Der Wol- 
kenkratzer hat die endlose Stapelung óf- 
fentlichen Raums ermóglicht, indem er je- 
de Etage gleichermaßen leicht zugänglich 
macht und durch die Anonymität seiner 
Architektur den verschiedenen Nutzern 
untereinander unbedingte Diskretion ge- 
währt. Wie sonst nur eigenständige Ge- 
bäude nebeneinander, ermöglicht er die 
vertikale Schichtung der widersprüchlich- 
sten Inhalte, ohne irgendeinen Harmoni- 
sierungsversuch oder eine Beeinflussung 
der ständig wechselnden Belegung. 
Im Wolkenkratzer hat die Architektur 
die letzte Kontrolle über ihren Inhalt ver- 
loren. Wie jungfráuliches Baulandist jede 
Etage immer wieder neu zu beziehen. Ar- 
chitektur ist hier nur noch Begrenzung. 
Sie ist der verlängerte Arm des stádtischen 
Rasterplans, der - ohne den Versuch einer 
hóheren Ordnung - miteinander verbin- 
det, was sich eigentlich feind ist. Hier le- 
ben nebeneinander die widersprüchlich- 
sten Weltanschauungen, ohne in Kontakt 
treten zu müssen. 
Wie diese ,staatsferne", unhierarchi- 
sche Ordnung der Stadt, mußte auch der 
Wolkenkratzer als ein Stück unsentimen- 
tale, unmoralische Architektur in Ameri- 
ka erfunden werden: Die Hochhäuser als 
konsequente Erfüllung städtebaulicher 
Vorgaben. Doch umgekehrt beeinflußte 
nicht nur der Städtebau den Gebäudetyp, 
der ihm folgte, denn der Wolkenkratzer 
hat ebenso Konsequenzen für den Ur- 
banismus: er ist seiner ständig wechseln- 
den Nutzung wegen ein „großer städti- 
scher  Destabilisator* (Koolhaas) Mit 
dem gewöhnlichen, unspektakulären 
Austausch seines Innenlebens ändert 
gleichzeitig ein großer Teil des Stadtbe- 
zirks seine Inhalte. 
Ohne irgendeinen Einfluß auf die Ge- 
setzgebung, wie Flächennutzungspläne 
oder ähnliches, werden mit den Inhalten 
der Hochhäuser auch die Inhalte der Stadt 
ausgewechselt. Die Geschosse der Wol- 
kenkratzer sind wie die Rasterblöcke zwi- 
schen den Straßen ideologische Leerräu- 
me, deren Inhalt weder von der Architek- 
tur, noch vom Developer kontrolliert 
wird, einzig abhängig vom Mietpreis pro 
Quadratmeter. Der Spekulant als Städte- 
bauer, dem es nicht um Inhalte, sondern 
um Profit geht, tritt hier völlig unbemän- 
telt auf. 
Ebenso wie der Rasterplan amerikani- 
scher Städte keine dreidimensionale 
Stadtbaukunst im europäischen Sinne ist, 
in ganzheitlicher Proportion von Straßen 
und Bebauung, zeigt auch die Form des 
Hochhauses keinen Zusammenhang mit 
der eigenen Nutzung. Die semantische 
Verbindung von Innen und Außen bliebin 
Amerika unbekannt. 
Die Gretchenfrage, wie man einen Wol- 
kenkratzer abreißt, stellt sich also gar 
nicht, denn er ist immer wieder umzunut- 
zen. Seine Architektur gerät nie in Kon- 
flikt mit dem Inhalt. Das ist eines seiner 
Konzepte. Die Konfektionierung seiner 
Räume entspricht den ökonomischen und 
ideologischen Forderungen. 
Zwar ist der Wolkenkratzer als Bautyp 
aus diesem Geist geboren, doch was die 
Konfektionierung der Räume angeht, de- 
ren Umnutzung und Interpretierbarkeit, 
trifft das genauso auf die heutigen durch- 
genormten Schulen, Krankenhäuser oder 
Sozialwohnungen zu. Nur ist ihre Archi- 
tektur in hohem Maße sentimental und hi- 
storisch belastet, versucht also weiterhin 
bildhaft „Schule“, „Krankenhaus“ oder 
„großbürgerliches Wohnhaus“ zu sein. 
Der virtuelle Raum 
E s ist nicht erst eine Erscheinung unse- 
rer Zeit, daß sich Innenräume än- 
dern, wenn die Bewohner wechseln. Neu 
sind nur die Mittel, mit denen Räume er- 
zeugt werden. Aus den Möbeln von einst 
sind komplette Systeme geworden, Räu- 
me als Möbel, mit einem Minimum an 
Masse oder gar — im Zeitalter der Licht-/ 
Holografie-/ Videokunst — vollkommen 
entmaterialisiert. Wenn in der Disco das 
Licht ausgeht, ist auch ihr Raum ver- 
schwunden und man wird desillusioniert; 
was bleibt ist dann nur ein Kater. 
Die Forderung nach dem wandelbaren 
Gebäude ist ebenfalls nichts Neues, neu ist 
nur der Anspruch auf Bildlosigkeit, denn 
die Inhalte des ikonografischen Pro- 
gramms erledigen zunehmend die Medien 
und das kunstvolle Licht. Innenräume 
sind nicht länger Stuck auf Stroh und 
Holzlatten, sondern perfekt simulierende 
Projektionen. Der am weitesten verbrei- 
tete illusionäre Raum ist allerdings der 
Fernsehschirm, der Raum im Raum. 
Die Architektur des Leerraums findet 
im „abstrakten“ Raum ihre Erfüllung, 
doch ist er selten als ein solcher vollendet. 
Er bedarf einer Vorstellung, um Bedeu- 
tung zu erlangen. Er muß erst „einge- 
ráàumt" werden, durch Imagination oder 
durch Einbauten. Scheinbar betrifft nur 
das letzte den Architekten. doch ange- 
sichts der immer perfekter werdenden Il- 
lusionskunst der Medien, der Lichtkunst, 
der Laserinstallationen und der Hologra- 
fie nähern wir uns Schritt für Schritt dem 
ersten — der Illusion. Spiegel und Licht sind 
die Bausteine des virtuellen Raumes, die 
nicht mehr der Materie oder der Schwer- 
kraft gehorchen. 
Der dauerhafte Raum verschwindet zu- 
gunsten von kurzlebigen Zustánden, Mo- 
mentaufnahmen, Sequenzen. Er wird ent- 
materialisiert durch Licht und Projektion. 
Sein Bild wird von neuen Gesetzen der 
Wahrnehmung bestimmt: denen des 
Films, denen der Verflüchtigung. Raum 
ist nicht mehr nur Rahmen für Bewegung, 
er verwandelt sich und wird selbst zur un- 
mittelbaren Aktion. 
Erst durch Licht wird Architektur sicht- 
bar, das hat Le Corbusier schon festge- 
stellt, doch meinte er wohl die Bewegung 
der Sonne, die seine weißen Kuben mo- 
dulierte, nicht die Lichtkunst, die Räume 
vollständig ersetzen kann und reprodu- 
zierbar macht, die Räume aus Tricks, Ef- 
fekten und optischen Täuschungen baut 
Der Wegfall der Materie — und sei es 
auch nur teilweise — berührt die Architek- 
tur fundamental. Woher kommen ihre 
„Bilder“, ihre Bezüge, wenn diese simu- 
lierbar, reproduzierbar und beliebig zu 
verfremden sind, wenn ihre Abhángigkeit 
vom konkreten Raum immer loser wird? 
Was bedeuten sie, wenn sie synthetisch 
entstehen, vóllig beliebig, frei von der 
Bindung an die alte Aufgabe „Haus“ zu 
sein und frei von jeglicher sozialer Rele- 
vanz? 
Sie werden nicht mehr auf dem Feld der 
Baukunst geerntet oder sind die Manifes- 
tation einer gesellschaftspolitischen Auf- 
gabe. Der virtuelle Raum dient in den 
meisten Fällen kommerziellen Zwecken 
und sucht seine Vor-Bilder im Film oder in 
der Werbung, dort, wo Raum zur totalen 
Projektion wird. Die architektonische 
Aussage, verpackt in einer attraktiven Mi- 
schung aus Traumwelt und Sensation, 
wird beschränkt auf Klischees, auf die Er- 
füllung einer Sehnsucht nach Heimat und 
Identität. Gesellschaftliche wie architek- 
tonische Leitbilder des Films sind eine 
Wurzel der populären Architektur. Die 
Suche nach Geborgenheit ist in seinen Kli- 
schees kommerziell geworden. Das Bild 
der Architektur für die Massen wird ohne 
Architekten entworfen. Es ist die anony- 
me Architektur der heutigen Zeit (archi- 
tecture without architects). 
Man kann resümieren, daß zwei wichtı- 
ge Aufgaben von der zeitgenössischen Ar- 
chitektur vernachlässigt werden, da sie 
mit all ihrer Kraft die Fassaden gestaltet 
und versucht, sie zum Reden zu bringen: 
Zum einen ist es die konzeptionelle Ge- 
staltung des Innern, die mehr ist als Trag- 
struktur oder Normerfüllung, zum andern 
die Beschäftigung mit der Kunst des virtu- 
ellen Raums. 
Die Architekten haben sich zurückgezo- 
gen von den Experimentierfeldern, sie sind 
.bescheiden^* geworden. Sie haben sich 
auf das steinerne Dekor der Fassaden ge- 
worfen, sie überlassen den konzeptionel- 
len Aufbau des Innern den Betonskelett- 
Konstrukteuren und die Einrichtung und 
Ikonographie der Räume den Dekorateu- 
ren und Lichtkünstlern. In dieser Zeit je- 
doch, in der daran gearbeitet wird, Mate- 
rie zu ersetzen, wird Wegwerfarchitektur 
zum immer prägenderen Teil der Umwelt 
und gehört damit zum Aufgabenfeld der 
Architektur. Der virtuelle Raum, die Pro- 
jektion, die endlose Reproduktion und 
die Geschwindigkeit sind zu Dimensionen 
der Baukunst geworden. 
Anmerkungen: 
1) August Endell: Die Schönheit der großen Stadt, Ar- 
chibook-Verlag, Berlin 1984 (Erstausgabe: 1908) S. 51 
2) Richard Sennett: Verfall und Ende des óffentlichen 
Lebens. Die Tyranneider Intimitàt. S. Fischer Verlag. 
Frankfurt a.M. 1983 
3) vgl. Wolfgang Wagener: Kleines Glossar zur Ge 
schichte des Details. in ARCH" 87 über den Skelett- 
bau 
4) Franz Schulze: Mies van der Rohe - Leben und 
Werk (Ausstellungskatalog). Berlin 1986, S.332 
5) Rem Koolhaas: Delirious New York, New York 
1978. S. 68 ff The Frontier in the Sky 
6) vgl. ARCH' 87S. 5ff Die Welt istreiffür den Archi- 
tekten als Visionär — Maaskant-Preis für Koolhaas: 
„Der fatale Schluß ... daß die Architektur eine be- 
&cheidene Disziplin werden soll.. " 
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