Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

in L’Esprit Nouveau undseit 1923 in „Vers 
une architecture“ viele deutsche Archi- 
tekten und Kritiker in die Irre. Die fast 
durchgehende Bebilderung mit Autos, 
Dampfern und Flugzeugen hielten die 
meisten für Le Corbusiers Wunsch nach 
einer rein technisch, maschinenmäßigen 
Gestaltung der Architektur und erklärten 
ihn deshalb zum Propheten eines funktio- 
nalen Technikkultes. Bruno Taut kari- 
kierte dieses Mißverständnis noch, indem 
er selbst das Foto eines Dampferaufbaus 
in ein „modernes Gebäude“ mit Land- 
schaft „im Stile Le Corbusiers‘“'” umzeich- 
nete, um damit die Vertreter einer dyna- 
mischen Architektur und der Maschinen- 
romantik in der Nachfolge Mendelsohns 
und Le Corbusiers lächerlich zu machen. 
Auch Hans Poelzig wandte sich in seiner 
berühmten BDA-Rede 1931 gegen eine 
Verherrlichung der Technik'”, gegen den 
Unsinn, eine technische Form als künstle- 
rischen Ausdruck einzusetzen, da durch 
deren rasche Vergänglichkeit nur neue 
Ornamente geschaffen würden; ein Vor- 
gang, der von Rogers bis Peichl im übrigen 
bis heute zu verfolgen ist. In völliger Ver- 
kennung Le Corbusiers, sah Poelzig in 
dessen „Wohnmaschine“ das Extrem die- 
ser Auffassung. Im gleichen Jahr 1931 
machte Roger Ginsburger den Werk- 
bundsekretär Walter Riezler, der das 
Haus Tugendhat von Mies gegen die 
Wohnmaschine von Le Corbusier abge- 
setzt hatte, darauf aufmerksam, daß in 
Vers une architecture nur ein Besinnen 
auf die Entstehung technischer Form ge- 
fordert wurde, um davon ausgehend eine 
neue Architektur als künstlerische Form 
der neuen Zeit entstehen zu lassen." Die 
Technik-Abbildungen sollten nach Le 
Corbusiers Auffassung nur eine Art Hy- 
giene der Optik bewirken, die Maschinen 
sollten nach dem Form- und Stilchaos des 
19. Jahrhunderts eine tabula rasa schaf- 
fen, aber nur um auf dieser Grundlage ei- 
ne neue Kunst errichten zu kónnen. Diese 
Reinigung visualisierte Le Corbusier z.B. 
drastisch-symbolisch mit einem Bidet als 
Titelseite für ein Kapitel über Museen, 
oder in einer Collage, in der er selbst, an 
eine Reling gelehnt, dem Untergang aka- 
demisch-historischer Architektur — zu- 
schaut.?" 
Eine Mitschuld an diesen Mifiverstánd- 
nissen trágt im übrigen auch die miserable 
deutsche Übersetzung, in der bis heute 
z.B. ein Zentralbegriff Le Corbusiers, die 
modénature, unklar bleibt, mit dem er in 
Anknüpfung an die klassische franzósi- 
sche Architekturtheorie eine künstleri- 
sche Charakterisierung der Bauaufgabe, 
aber mit modernen Mitteln, forderte. In 
volliger Verkennung der ‘architektoni- 
schen Ziele Le Corbusiers wurde dagegen 
schon in den 20er Jahren jede Referenz 
auf Autos oder Schiffe an modernen Bau- 
ten, wie Geländer in Relingform oder 
Fenster als Bullaugen, auf Le Corbusier 
bezogen. Zumeist handelt es sich bei die- 
ser angeblichen Le Corbusier-Nachfolge 
jedoch nur um Detail-Zitate; nur wenige 
wie damals Scharoun und heute Richard 
Meier, verstanden es, die Maschinenform 
als Ausdruck des technischen Zeitalters so 
wie Le Corbusier in architektonische Ge- 
staltung umzusetzen. 
D ie MiBverständnisse um Le Corbu- 
siers Ziele und Ideen in Deutsch- 
land sind in der Auseinandersetzung mit 
dem Bauhaus besonders gut zu verfolgen. 
1923 organisierte Gropius im Rahmen der 
groBen Bauhausausstellung, der er den 
programmatischen Titel ,Kunst und 
Technik eine neue Einheit“ gab, eine Be- 
gleitausstellung „Internationale Archi- 
tektur“. Gropius stellte absichtlich eine 
einseitige Auswahl zusammen, um die 
Entwicklung der modernen Architektur 
„nach der dynamisch funktionellen Seite 
hin, weg von Ornament und Profil“ her- 
auszustellen. Die Arbeit am Bauhaus soli- 
te in einen ähnlichen, internationalen 
Kontext gestellt und dadurch gestützt wer- 
den. Neben Beiträgen von Mies, Taut und 
Mendelsohn waren Bauten aus Holland, 
der Tschechoslowakei und Dänemark so- 
wie erstmalig und ausführlich von Le Cor- 
busier zu sehen. Er schickte umfangrei- 
ches Plan- und Fotomaterial und lieferte 
sogar genaue Beschriftungen und Anwei- 
sungen für die Ausstellung”. Gezeigt wur- 
den mit 25 Tafeln die Ville contemporai- 
ne, die immeubles-villas und Citrohan-Se- 
rienhäuser. Le Corbusier war damit wie 
kein anderer Architekt vertreten und er- 
regte besonders mit seinem städtebauli- 
chen Projekt Aufsehen. 
Le Corbusiers erste Konkretisationen 
seiner Wohnmaschine — die immeubles 
villas und Citrohan — standen also Gro- 
pius’ Wohnmaschine — der Baukasten im 
GroBen — auf der Ausstellung direkt ge- 
genüber, wodurch nicht nur das MiBver- 
ständnis, sondern auch der prinzipiell un- 
terschiedliche Ansatz ablesbar wird, der 
die weitere, gegenláufige Entwicklung be- 
stimmte: Le Corbusier suchte einen Stan- 
dard, eine ideale Wohnform auf der 
Grundlage neuer Formen und Konstruk- 
tionen, Gropius kombinierte noch ohne 
konstruktive Überlegungen wie bei einem 
Anker-Baukasten, geometrische Grund- 
formen oder Typen. Der Gegensatz von 
Standard und Typ kann aber nur von der 
jeweiligen inhaltlichen Intention her wirk- 
lich verstanden werden, denn auf sprachli- 
cher Ebene verwischt er sich nicht nur bei 
der Übersetzung, sondern Le Corbusier 
wechselte selbst manchmal die Begriffe. 
Schon 1914 auf der berühmten Werk- 
bunddiskussion in Kôln, die Le Corbusier 
am Rande persônlich miterlebte, stand 
dieser Gegensatz im Zentrum der Diskus- 
sion zwischen van de Velde und Muthe- 
sius. Seit 1919/20 war Standard für Le 
Corbusier ,das, was perfekt gemacht 
ist“.?® Er betonte später ausdrücklich, daß 
die Aufstellung eines Standards seine 
wichtigste Erkenntnis der Esprit-Nouve- 
au-Zeit war, denn nur auf seiner Grundla- 
ge kann eine vollkommene Leistung er- 
reicht werden.?? Standard kommt nach Le 
Corbusier ganz darwinistisch durch Aus- 
lese und Experiment aus ,.der tiefgreifen- 
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den Masse“ hervor, entwickelt sich als Re- 
sultante aus ökonomischen, sozialen, fi- 
nanziellen oder technischen Gründen. Als 
Beispiel diente Le Corbusier die Entwick- 
lung der Autokarosserie zu einem funktio- 
nalen Gehäuse. Dieser Vergleich er- 
scheint aus heutiger Sicht naiv, denn wir 
wissen inzwischen über den Zusammen- 
hang von Formwandel, Moden und Kapi- 
talinteressen Bescheid, aber Le Corbusier 
ging es um etwas ganz anderes, wie seine 
Parallelisierung der Entwicklung des grie- 
chischen Tempels mit der des Autos zeigt. 
Der griechische Tempel ist für ihn das Mu- 
sterbeispiel für einen Standard, für eine zu 
immer größerer Perfektion aufsteigenden 
Form, in der sich der Geist und die Kultur 
einer ganzen Zeit ausdrückt. Die Paralle- 
lisierung mit dem Auto war nur der Ver- 
such, ein ähnliches Phänomen, an einem 
modernen Objekt aufzuzeigen. In der 
Nachkriegszeit lieferte er eine viel treffen- 
dere Illustration seiner Vorstellung vom 
Standard verschiedener Epochen, als er 
„vier Standardwerke des menschlichen 
Geistes'^", den griechischen Tempel, eine 
gotische Kathedrale, eine Renaissance- 
Kirche und eine Stahlbeton-Wohnscheibe 
à la Le Corbusier nebeneinandersetzte. 
Erst hier wird die Zielrichtung seiner Ar- 
chitektur ganz verstándlich. Typ bezeich- 
net im Gegensatz dazu, im Sinne von Mu- 
thesius, eine Form, die sich besonders für 
die maschinelle und industrielle Serien- 
produktion eignet. 
In einer Kritik in L'Esprit Nouveau ver- 
wies Le Corbusier auf die nach seiner Sicht 
falsche Ausrichtung des Bauhauses: Gro- 
pius wolle zwar ,,der industriellen Produk- 
tion den Faktor der Perfektion von Stan- 
dards bringen“®, aber er miisse den 
Schluß ziehen, „daß eine Kunstschule völ- 
lig unfähig ist, die industrielle Produktion 
zu verbessern, Standards zu bringen: man 
bringt keine fertigen Standards“. Nach Le 
Corbusiers Auffassung mußte sich der 
Standard aus der Breite nach oben zu 
höchster Qualität entwickeln, während 
am Bauhaus die industrielle Produktion 
bereits von oben, durch den Künstler, in 
bestimmten, fast ausschließlich aus der 
Geometrie entwickelten Typen fixiert 
wurde. 
Gropius, der sich nach der Lektüre von 
Vers une architecture geradezu als „Bru- 
der“ von Le Corbusier fühlte, rechtfertig- 
te in einem Brief sein Schulprogramm, oh- 
ne allerdings den Unterschied von Typ 
und Standard überhaupt zu reflektieren: 
Niemand denke so anmaßend, „daß einige 
Menschen oder Institute einen Typ schaf- 
fen können, aber die Richtung zum Typ in 
bewußter Abwendung vom ‚Kunstgewer- 
be’ scheint mir entscheidend zu sein“.”” 
Anstatt einer völligen Verneinung der 
Kunst „wie im Konstruktivismus“ wollte 
Gropius, daß in einem allmählichen Pro- 
zeß, die „ganze Umwelt wieder durchsät- 
tigt ist von dem, was wir heute unter Kunst 
verstehen". Le Corbusier antwortete 
zwar, er sei glücklich ,,die Gemeinschaft 
der Ideen*"" untereinander zu verneh- 
men, der prinzipielle Unterschied war je-
	        

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