in L’Esprit Nouveau undseit 1923 in „Vers
une architecture“ viele deutsche Archi-
tekten und Kritiker in die Irre. Die fast
durchgehende Bebilderung mit Autos,
Dampfern und Flugzeugen hielten die
meisten für Le Corbusiers Wunsch nach
einer rein technisch, maschinenmäßigen
Gestaltung der Architektur und erklärten
ihn deshalb zum Propheten eines funktio-
nalen Technikkultes. Bruno Taut kari-
kierte dieses Mißverständnis noch, indem
er selbst das Foto eines Dampferaufbaus
in ein „modernes Gebäude“ mit Land-
schaft „im Stile Le Corbusiers‘“'” umzeich-
nete, um damit die Vertreter einer dyna-
mischen Architektur und der Maschinen-
romantik in der Nachfolge Mendelsohns
und Le Corbusiers lächerlich zu machen.
Auch Hans Poelzig wandte sich in seiner
berühmten BDA-Rede 1931 gegen eine
Verherrlichung der Technik'”, gegen den
Unsinn, eine technische Form als künstle-
rischen Ausdruck einzusetzen, da durch
deren rasche Vergänglichkeit nur neue
Ornamente geschaffen würden; ein Vor-
gang, der von Rogers bis Peichl im übrigen
bis heute zu verfolgen ist. In völliger Ver-
kennung Le Corbusiers, sah Poelzig in
dessen „Wohnmaschine“ das Extrem die-
ser Auffassung. Im gleichen Jahr 1931
machte Roger Ginsburger den Werk-
bundsekretär Walter Riezler, der das
Haus Tugendhat von Mies gegen die
Wohnmaschine von Le Corbusier abge-
setzt hatte, darauf aufmerksam, daß in
Vers une architecture nur ein Besinnen
auf die Entstehung technischer Form ge-
fordert wurde, um davon ausgehend eine
neue Architektur als künstlerische Form
der neuen Zeit entstehen zu lassen." Die
Technik-Abbildungen sollten nach Le
Corbusiers Auffassung nur eine Art Hy-
giene der Optik bewirken, die Maschinen
sollten nach dem Form- und Stilchaos des
19. Jahrhunderts eine tabula rasa schaf-
fen, aber nur um auf dieser Grundlage ei-
ne neue Kunst errichten zu kónnen. Diese
Reinigung visualisierte Le Corbusier z.B.
drastisch-symbolisch mit einem Bidet als
Titelseite für ein Kapitel über Museen,
oder in einer Collage, in der er selbst, an
eine Reling gelehnt, dem Untergang aka-
demisch-historischer Architektur — zu-
schaut.?"
Eine Mitschuld an diesen Mifiverstánd-
nissen trágt im übrigen auch die miserable
deutsche Übersetzung, in der bis heute
z.B. ein Zentralbegriff Le Corbusiers, die
modénature, unklar bleibt, mit dem er in
Anknüpfung an die klassische franzósi-
sche Architekturtheorie eine künstleri-
sche Charakterisierung der Bauaufgabe,
aber mit modernen Mitteln, forderte. In
volliger Verkennung der ‘architektoni-
schen Ziele Le Corbusiers wurde dagegen
schon in den 20er Jahren jede Referenz
auf Autos oder Schiffe an modernen Bau-
ten, wie Geländer in Relingform oder
Fenster als Bullaugen, auf Le Corbusier
bezogen. Zumeist handelt es sich bei die-
ser angeblichen Le Corbusier-Nachfolge
jedoch nur um Detail-Zitate; nur wenige
wie damals Scharoun und heute Richard
Meier, verstanden es, die Maschinenform
als Ausdruck des technischen Zeitalters so
wie Le Corbusier in architektonische Ge-
staltung umzusetzen.
D ie MiBverständnisse um Le Corbu-
siers Ziele und Ideen in Deutsch-
land sind in der Auseinandersetzung mit
dem Bauhaus besonders gut zu verfolgen.
1923 organisierte Gropius im Rahmen der
groBen Bauhausausstellung, der er den
programmatischen Titel ,Kunst und
Technik eine neue Einheit“ gab, eine Be-
gleitausstellung „Internationale Archi-
tektur“. Gropius stellte absichtlich eine
einseitige Auswahl zusammen, um die
Entwicklung der modernen Architektur
„nach der dynamisch funktionellen Seite
hin, weg von Ornament und Profil“ her-
auszustellen. Die Arbeit am Bauhaus soli-
te in einen ähnlichen, internationalen
Kontext gestellt und dadurch gestützt wer-
den. Neben Beiträgen von Mies, Taut und
Mendelsohn waren Bauten aus Holland,
der Tschechoslowakei und Dänemark so-
wie erstmalig und ausführlich von Le Cor-
busier zu sehen. Er schickte umfangrei-
ches Plan- und Fotomaterial und lieferte
sogar genaue Beschriftungen und Anwei-
sungen für die Ausstellung”. Gezeigt wur-
den mit 25 Tafeln die Ville contemporai-
ne, die immeubles-villas und Citrohan-Se-
rienhäuser. Le Corbusier war damit wie
kein anderer Architekt vertreten und er-
regte besonders mit seinem städtebauli-
chen Projekt Aufsehen.
Le Corbusiers erste Konkretisationen
seiner Wohnmaschine — die immeubles
villas und Citrohan — standen also Gro-
pius’ Wohnmaschine — der Baukasten im
GroBen — auf der Ausstellung direkt ge-
genüber, wodurch nicht nur das MiBver-
ständnis, sondern auch der prinzipiell un-
terschiedliche Ansatz ablesbar wird, der
die weitere, gegenláufige Entwicklung be-
stimmte: Le Corbusier suchte einen Stan-
dard, eine ideale Wohnform auf der
Grundlage neuer Formen und Konstruk-
tionen, Gropius kombinierte noch ohne
konstruktive Überlegungen wie bei einem
Anker-Baukasten, geometrische Grund-
formen oder Typen. Der Gegensatz von
Standard und Typ kann aber nur von der
jeweiligen inhaltlichen Intention her wirk-
lich verstanden werden, denn auf sprachli-
cher Ebene verwischt er sich nicht nur bei
der Übersetzung, sondern Le Corbusier
wechselte selbst manchmal die Begriffe.
Schon 1914 auf der berühmten Werk-
bunddiskussion in Kôln, die Le Corbusier
am Rande persônlich miterlebte, stand
dieser Gegensatz im Zentrum der Diskus-
sion zwischen van de Velde und Muthe-
sius. Seit 1919/20 war Standard für Le
Corbusier ,das, was perfekt gemacht
ist“.?® Er betonte später ausdrücklich, daß
die Aufstellung eines Standards seine
wichtigste Erkenntnis der Esprit-Nouve-
au-Zeit war, denn nur auf seiner Grundla-
ge kann eine vollkommene Leistung er-
reicht werden.?? Standard kommt nach Le
Corbusier ganz darwinistisch durch Aus-
lese und Experiment aus ,.der tiefgreifen-
HA,
x +
den Masse“ hervor, entwickelt sich als Re-
sultante aus ökonomischen, sozialen, fi-
nanziellen oder technischen Gründen. Als
Beispiel diente Le Corbusier die Entwick-
lung der Autokarosserie zu einem funktio-
nalen Gehäuse. Dieser Vergleich er-
scheint aus heutiger Sicht naiv, denn wir
wissen inzwischen über den Zusammen-
hang von Formwandel, Moden und Kapi-
talinteressen Bescheid, aber Le Corbusier
ging es um etwas ganz anderes, wie seine
Parallelisierung der Entwicklung des grie-
chischen Tempels mit der des Autos zeigt.
Der griechische Tempel ist für ihn das Mu-
sterbeispiel für einen Standard, für eine zu
immer größerer Perfektion aufsteigenden
Form, in der sich der Geist und die Kultur
einer ganzen Zeit ausdrückt. Die Paralle-
lisierung mit dem Auto war nur der Ver-
such, ein ähnliches Phänomen, an einem
modernen Objekt aufzuzeigen. In der
Nachkriegszeit lieferte er eine viel treffen-
dere Illustration seiner Vorstellung vom
Standard verschiedener Epochen, als er
„vier Standardwerke des menschlichen
Geistes'^", den griechischen Tempel, eine
gotische Kathedrale, eine Renaissance-
Kirche und eine Stahlbeton-Wohnscheibe
à la Le Corbusier nebeneinandersetzte.
Erst hier wird die Zielrichtung seiner Ar-
chitektur ganz verstándlich. Typ bezeich-
net im Gegensatz dazu, im Sinne von Mu-
thesius, eine Form, die sich besonders für
die maschinelle und industrielle Serien-
produktion eignet.
In einer Kritik in L'Esprit Nouveau ver-
wies Le Corbusier auf die nach seiner Sicht
falsche Ausrichtung des Bauhauses: Gro-
pius wolle zwar ,,der industriellen Produk-
tion den Faktor der Perfektion von Stan-
dards bringen“®, aber er miisse den
Schluß ziehen, „daß eine Kunstschule völ-
lig unfähig ist, die industrielle Produktion
zu verbessern, Standards zu bringen: man
bringt keine fertigen Standards“. Nach Le
Corbusiers Auffassung mußte sich der
Standard aus der Breite nach oben zu
höchster Qualität entwickeln, während
am Bauhaus die industrielle Produktion
bereits von oben, durch den Künstler, in
bestimmten, fast ausschließlich aus der
Geometrie entwickelten Typen fixiert
wurde.
Gropius, der sich nach der Lektüre von
Vers une architecture geradezu als „Bru-
der“ von Le Corbusier fühlte, rechtfertig-
te in einem Brief sein Schulprogramm, oh-
ne allerdings den Unterschied von Typ
und Standard überhaupt zu reflektieren:
Niemand denke so anmaßend, „daß einige
Menschen oder Institute einen Typ schaf-
fen können, aber die Richtung zum Typ in
bewußter Abwendung vom ‚Kunstgewer-
be’ scheint mir entscheidend zu sein“.””
Anstatt einer völligen Verneinung der
Kunst „wie im Konstruktivismus“ wollte
Gropius, daß in einem allmählichen Pro-
zeß, die „ganze Umwelt wieder durchsät-
tigt ist von dem, was wir heute unter Kunst
verstehen". Le Corbusier antwortete
zwar, er sei glücklich ,,die Gemeinschaft
der Ideen*"" untereinander zu verneh-
men, der prinzipielle Unterschied war je-