Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

doch übergangen worden, den die weitere 
Entwicklung offensichtlich machte. 
Ausgehend von einem Stahlbetonske- 
lettsystem, das er Dom-ino genannt hatte, 
und einer Hausform mit zweigeschossi- 
gem Wohnraum, dem sog. Citrohanhaus, 
suchte Le Corbusier in immer neuen An- 
läufen zu immer größerer Vollendung und 
Formenreichtum die 20er Jahre hindurch, 
einen Standard zu entwickeln. Im Gegen- 
satz zu diesem Weg zu höchster Qualität 
und Perfektion verliefen die Bemühungen 
von Gropius, aber auch von Ernst May, 
Otto Haeseler u.a. in ganz anderer Rich- 
tung. Die Suche nach einem Typus, d.h. 
einer Form, die besonders gut mecha- 
nisch-industriell reproduzierbarist, führte 
im Bereich der Architektur zur Rationali- 
sierung sowohl der Grundrisse und des 
Wohnvorgangs als auch des gesamten 
Bauprozesses. Hier zeigt sich die Wurzel 
eines weiteren Mifverstándnisses: So- 
wohl die meisten Vertreter des Neuen 
Bauens in Deutschland, wie auch Le Cor- 
busier sprachen stándig von Taylorismus, 
Fordismus oder FlieBbandproduktion im 
Bauwesen. In Deutschland war diese Be- 
mühung um Rationalisierung jedoch ge- 
tragen von dem sozialen Anspruch, durch 
typisierte Massenproduktion Baukosten 
und Mieten zu senken, Le Corbusier inter- 
essierte das relativ wenig, ihm ging es um 
den Ausdruck von Modernitát, Technik 
und Perfektion. 
uf der Werkbundausstellung in 
A Stuttgart 1927 waren beide Ansätze 
direkt nebeneinander zusehen. Le Corbu- 
sier errichtete zwei Varianten seines Ci- 
trohanhauses, mit höchster räumlicher 
und wahrnehmungspsychologischer Raf- 
finesse, aber auch mit den größten Bauko- 
sten. Daneben befanden sich die beiden 
Häuser von Gropius, an denen er die Ra- 
tionalisierung der Baufertigung demon- 
strieren wollte. Während Le Corbusier 
Architektur als Raumkunstwerk, als Weg 
zu einem neuen ,Standard" vorführte, 
war Gropius auf der Linie seines ,,Bauka- 
sten im Großen“ weitergeschritten, such- 
te größtmögliche Typisierung der Bautei- 
le, und verzichtete zugunsten der Baura- 
tionalisierung sogar weitgehend auf for- 
male Durchgestaltung. Diesen Weg einer 
Vernachlässigung der Form ging Gropius 
sogar noch weiter, so daß ihm bei den Ver- 
suchen 1930/31 für industriell produzierte 
Bauten, den sog. Hirsch-Kupfer-Häu- 
sern, zurecht der Vorwurf gemacht wur- 
de, sie sähen aus wie Baracken™; genau 
gleichzeitig als Le Corbusier die Villa Sa- 
voye, den Inbegriff von Architektur- 
Kunst im 20. Jahrhundert, errichtete. 
Hier erreichen die konträren Wege zu 
Standard oder Typ ihre größte Entfer- 
nung. 
Schon in Stuttgart wandten sich die 
Bauhausstudenten entttäuscht von den 
beiden Häusern ihres Direktors ab und 
meinten, so etwas wie die Bauten Le Cor- 
busiers hätte aus dem Bauhaus kommen 
müssen, worauf Gropius im privaten Ge- 
spräch Le Corbusiers individualistische 
Architektur abqualifizierte und erklärte, 
die Zukunft liege nur im typisierten Haus 
als Industrieprodukt.?? Dieses blinde Op- 
fer künstlerischer Gestaltung an die an- 
geblichen Zwänge rationalisierter Bau- 
wirtschaft, wurde zum Kennzeichen gro- 
Ber Teile der Nachkriegsarchitektur; um- 
gekehrt blieb Le Corbusiers Architektur- 
Kunst eine Ausnahmeerscheinung, sie 
wurde nie zum Standard der Moderne. 
Der Gegensatz von Typ und Standard 
kann ein weiteres Problemfeld mit MiB- 
verstándnissen und inneren Gegensátzen 
zwischen Le Corbusier und Deutschland 
erklären. Typisierung, verstanden als 
funktionale Gestaltung und Anpassung an 
rationelle Produktionsprozesse, führt zu 
einer Reduktion individueller Formge- 
bung, im Extrem zu Normierung und Ver- 
einheitlichung. Sie ist als funktionale und 
technische Form weitgehend von Ge- 
schichte, Tradition und Region unabhän- 
gig und sie tendiert, da industrielle Pro- 
duktionsprozesse länderübergreifend 
sind, zu einem „Internationalismus“: „Ein 
Walliser Dorf und ein ostfriesisches Dorf, 
das waren Welten, ein Hochhaus in Zürich 
und ein Hochhaus in Hamburg sind ver- 
tauschbar; Waschmaschine und Kühl- 
schrank haben keine nationale Physiogno- 
mie, die Technik ist antiregional“*, cha- 
rakterisierte Max Frisch diese Entwick- 
lung. Die Idee des Standards zielt dagegen 
auf eine Form, die aus einer bestimmten 
Region entsprechend dem „Stand der Pro- 
duktivkräfte“ zu hóchster Perfektion em- 
porwáchst, wobei individuelle Schópfer- 
kraft und historisch-regionale Prámissen 
sich ausprágen kónnen. Diese gegenláufi- 
ge Tendenz ging schon in den 20er Jahren 
in Mif verstándnissen, zu denen auch Le 
Corbusier viel beitrug, unter. 
Als sich Hans Hildebrandt 1924 an Le 
Corbusier wandte, um Vers une architec- 
ture ins Deutsche zu übersetzen, schrieb 
ihm dieser zurück, daB man nach seiner 
Meinung in Deutschland der Architektur 
nicht auf den Grund gegangen sei und nur 
an dér Oberfláche gearbeitet hátte.? Die 
neuen Bewegungen nannte er sentimen- 
tal, da hier nur einzelne , Paradebeispiele 
des modernen Stils“ geschaffen würden. 
Die moderne Architektur werde deshalb 
in Frankreich entstehen. Karrieren wie 
die von Poelzig und Behrens, die ihre kon- 
struktive Vorkriegsarchitektur verlassen 
hätten, seien typisch für die Oberfläch- 
lichkeit in Deutschland. Was in diesem 
Brief noch relativ gemäßigt klingt, wird al- 
lerdings in einem unter dem Pseudonym 
Paul Boulard veröffentlichten Artikel 
„Allemagne“ in L’Esprit Nouveau zu ei- 
nem üblen chauvinistischen Haßausbruch 
gegen Deutschland, der wahrscheinlich 
nur darauf beruhte, daß der Wasmuth- 
Verlag Le Corbusier mitgeteilt hatte, daß 
eine Übersetzung von Vers une architec- 
ture uninteressant sei, da diese Ideen in 
Deutschland längst bekannt seien. In ei- 
ner für ihn typischen Überreaktion be- 
schimpfte Le Corbusier - schizophrener- 
weise in derselben Nummer von L'Esprit 
Nouveau, in der Gropius über deutsche 
Architektur schrieb und in der ein Aufruf 
für das Bauhaus abgedruckt ist — mit den 
abgestandendsten Klischees von der bar- 
barischen germanischen Seele, alles was 
ihm zu Deutschland einfiel, scheute sich 
auch nicht seine Vorkriegserinnerungen 
an Deutschland auf den Kopf zu stellen, 
um Behrens, Bruno Schmitz und Krupp in 
einen Topf zu werfen und erklärte schließ- 
lich, daß Deutschland seit 1870 die Frage 
der Architektur keinen Schritt vorange- 
bracht habe. Als Erklärungsmodell diente 
ihm dabei der abgedroschene Gegensatz 
zwischen Nord und Süd — bezeichnender- 
weise nicht Ost und West —, um der nord- 
ischen deutschen Traurigkeit, die südliche 
französische Fröhlichkeit gegenüberzu- 
stellen. Die ganze Episode wäre zu verges- 
sen, hätte nicht Hugo Häring 1933 diese 
Nord-Südteilung wieder aufgegriffen, nun 
aber, um mit umgekehrten Vorzeichen, 
den südlichen klassischen geometrischen, 
vom nördlichen organhaften gotischen 
Geist zu unterscheiden und um damit die 
moderne deutsche Architektur speziell 
gegen Le Corbusier abzugrenzen und den 
neuen Machthabern als germanisch- 
deutsch anzutragen.“’ Eine bezeichnende 
Peinlichkeit, denn mit Le Corbusier sollte 
der Moderne ihre radikale Spitze genom- 
men werden, eine Position, die er seit 
Stuttgart 1927 einnahm. 
Le Corbusiers Chauvinismus gegen- 
über Deutschland hatte sich nach der Ein- 
ladung, an der WeiBenhofsiedlung mitzu- 
bauen, sehr gemäßigt. Mies, der Le Cor- 
busier besonders verehrte, wies ihm die 
dominierenden Eckplätze der Siedlung zu 
und gab ihm freien Gestaltungsraum. Bei 
Eröffnung der Werkbundausstellung frag- 
te Paul Bonatz noch Joseph Gantner, Re- 
dakteur des Neuen Frankfurt, wer denn 
dieser ,,Courvoisier“* sei, aber nach der 
folgenden heftigen Kritik an seinen Bau- 
ten war Le Corbusier in Deutschland zum 
radikalen Exponenten moderner Archi- 
tektur avanciert. Le Corbusier polarisier- 
te wie kein anderer die Meinungen, natür- 
lich auch weil er selbst in Vers une archi- 
tecture, die theoretischen Extrempositio- 
nen geliefert hatte, die nun erst, zusam- 
men mit der Praxis in Stuttgart 1927, zün- 
deten. Einerseits kopierten nun zahlrei- 
che Architekten Details oder seinen gan- 
zen Stil®, andererseits erschien z.B. eine 
Artikelserie unter dem Titel „Anti-Cor- 
busier“”, und sein Schlagwort von der 
Wohnmaschine wurde zum meistzitierten 
Begriff in der Auseinandersetzung um das 
Neue Bauen und diente den konservati- 
ven Kritikern dazu, sowohl die alten Res- 
sentiments gegen Zivilisation, Maschine 
oder Großstadt wieder aufzuwärmen, als 
auch das handwerkliche „menschliche“ 
Bauen dagegen abzugrenzen. 
Die Weißenhofsiedlung wurde und wird 
bis heute als Demonstration der gleichge- 
richteten Bemühungen einer internatio- 
nalen Avantgarde gesehen und ausgerech- 
net Le Corbusier, der absolute Individua- 
list, dient somit als Paradebeispiel für die 
von Gropiusseit der Ausstellung 1923 pro- 
pagierte „Internationale Architektur“. 
Unter diesem Titel veröffentlichte Gro- 
WA
	        

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