doch übergangen worden, den die weitere
Entwicklung offensichtlich machte.
Ausgehend von einem Stahlbetonske-
lettsystem, das er Dom-ino genannt hatte,
und einer Hausform mit zweigeschossi-
gem Wohnraum, dem sog. Citrohanhaus,
suchte Le Corbusier in immer neuen An-
läufen zu immer größerer Vollendung und
Formenreichtum die 20er Jahre hindurch,
einen Standard zu entwickeln. Im Gegen-
satz zu diesem Weg zu höchster Qualität
und Perfektion verliefen die Bemühungen
von Gropius, aber auch von Ernst May,
Otto Haeseler u.a. in ganz anderer Rich-
tung. Die Suche nach einem Typus, d.h.
einer Form, die besonders gut mecha-
nisch-industriell reproduzierbarist, führte
im Bereich der Architektur zur Rationali-
sierung sowohl der Grundrisse und des
Wohnvorgangs als auch des gesamten
Bauprozesses. Hier zeigt sich die Wurzel
eines weiteren Mifverstándnisses: So-
wohl die meisten Vertreter des Neuen
Bauens in Deutschland, wie auch Le Cor-
busier sprachen stándig von Taylorismus,
Fordismus oder FlieBbandproduktion im
Bauwesen. In Deutschland war diese Be-
mühung um Rationalisierung jedoch ge-
tragen von dem sozialen Anspruch, durch
typisierte Massenproduktion Baukosten
und Mieten zu senken, Le Corbusier inter-
essierte das relativ wenig, ihm ging es um
den Ausdruck von Modernitát, Technik
und Perfektion.
uf der Werkbundausstellung in
A Stuttgart 1927 waren beide Ansätze
direkt nebeneinander zusehen. Le Corbu-
sier errichtete zwei Varianten seines Ci-
trohanhauses, mit höchster räumlicher
und wahrnehmungspsychologischer Raf-
finesse, aber auch mit den größten Bauko-
sten. Daneben befanden sich die beiden
Häuser von Gropius, an denen er die Ra-
tionalisierung der Baufertigung demon-
strieren wollte. Während Le Corbusier
Architektur als Raumkunstwerk, als Weg
zu einem neuen ,Standard" vorführte,
war Gropius auf der Linie seines ,,Bauka-
sten im Großen“ weitergeschritten, such-
te größtmögliche Typisierung der Bautei-
le, und verzichtete zugunsten der Baura-
tionalisierung sogar weitgehend auf for-
male Durchgestaltung. Diesen Weg einer
Vernachlässigung der Form ging Gropius
sogar noch weiter, so daß ihm bei den Ver-
suchen 1930/31 für industriell produzierte
Bauten, den sog. Hirsch-Kupfer-Häu-
sern, zurecht der Vorwurf gemacht wur-
de, sie sähen aus wie Baracken™; genau
gleichzeitig als Le Corbusier die Villa Sa-
voye, den Inbegriff von Architektur-
Kunst im 20. Jahrhundert, errichtete.
Hier erreichen die konträren Wege zu
Standard oder Typ ihre größte Entfer-
nung.
Schon in Stuttgart wandten sich die
Bauhausstudenten entttäuscht von den
beiden Häusern ihres Direktors ab und
meinten, so etwas wie die Bauten Le Cor-
busiers hätte aus dem Bauhaus kommen
müssen, worauf Gropius im privaten Ge-
spräch Le Corbusiers individualistische
Architektur abqualifizierte und erklärte,
die Zukunft liege nur im typisierten Haus
als Industrieprodukt.?? Dieses blinde Op-
fer künstlerischer Gestaltung an die an-
geblichen Zwänge rationalisierter Bau-
wirtschaft, wurde zum Kennzeichen gro-
Ber Teile der Nachkriegsarchitektur; um-
gekehrt blieb Le Corbusiers Architektur-
Kunst eine Ausnahmeerscheinung, sie
wurde nie zum Standard der Moderne.
Der Gegensatz von Typ und Standard
kann ein weiteres Problemfeld mit MiB-
verstándnissen und inneren Gegensátzen
zwischen Le Corbusier und Deutschland
erklären. Typisierung, verstanden als
funktionale Gestaltung und Anpassung an
rationelle Produktionsprozesse, führt zu
einer Reduktion individueller Formge-
bung, im Extrem zu Normierung und Ver-
einheitlichung. Sie ist als funktionale und
technische Form weitgehend von Ge-
schichte, Tradition und Region unabhän-
gig und sie tendiert, da industrielle Pro-
duktionsprozesse länderübergreifend
sind, zu einem „Internationalismus“: „Ein
Walliser Dorf und ein ostfriesisches Dorf,
das waren Welten, ein Hochhaus in Zürich
und ein Hochhaus in Hamburg sind ver-
tauschbar; Waschmaschine und Kühl-
schrank haben keine nationale Physiogno-
mie, die Technik ist antiregional“*, cha-
rakterisierte Max Frisch diese Entwick-
lung. Die Idee des Standards zielt dagegen
auf eine Form, die aus einer bestimmten
Region entsprechend dem „Stand der Pro-
duktivkräfte“ zu hóchster Perfektion em-
porwáchst, wobei individuelle Schópfer-
kraft und historisch-regionale Prámissen
sich ausprágen kónnen. Diese gegenláufi-
ge Tendenz ging schon in den 20er Jahren
in Mif verstándnissen, zu denen auch Le
Corbusier viel beitrug, unter.
Als sich Hans Hildebrandt 1924 an Le
Corbusier wandte, um Vers une architec-
ture ins Deutsche zu übersetzen, schrieb
ihm dieser zurück, daB man nach seiner
Meinung in Deutschland der Architektur
nicht auf den Grund gegangen sei und nur
an dér Oberfláche gearbeitet hátte.? Die
neuen Bewegungen nannte er sentimen-
tal, da hier nur einzelne , Paradebeispiele
des modernen Stils“ geschaffen würden.
Die moderne Architektur werde deshalb
in Frankreich entstehen. Karrieren wie
die von Poelzig und Behrens, die ihre kon-
struktive Vorkriegsarchitektur verlassen
hätten, seien typisch für die Oberfläch-
lichkeit in Deutschland. Was in diesem
Brief noch relativ gemäßigt klingt, wird al-
lerdings in einem unter dem Pseudonym
Paul Boulard veröffentlichten Artikel
„Allemagne“ in L’Esprit Nouveau zu ei-
nem üblen chauvinistischen Haßausbruch
gegen Deutschland, der wahrscheinlich
nur darauf beruhte, daß der Wasmuth-
Verlag Le Corbusier mitgeteilt hatte, daß
eine Übersetzung von Vers une architec-
ture uninteressant sei, da diese Ideen in
Deutschland längst bekannt seien. In ei-
ner für ihn typischen Überreaktion be-
schimpfte Le Corbusier - schizophrener-
weise in derselben Nummer von L'Esprit
Nouveau, in der Gropius über deutsche
Architektur schrieb und in der ein Aufruf
für das Bauhaus abgedruckt ist — mit den
abgestandendsten Klischees von der bar-
barischen germanischen Seele, alles was
ihm zu Deutschland einfiel, scheute sich
auch nicht seine Vorkriegserinnerungen
an Deutschland auf den Kopf zu stellen,
um Behrens, Bruno Schmitz und Krupp in
einen Topf zu werfen und erklärte schließ-
lich, daß Deutschland seit 1870 die Frage
der Architektur keinen Schritt vorange-
bracht habe. Als Erklärungsmodell diente
ihm dabei der abgedroschene Gegensatz
zwischen Nord und Süd — bezeichnender-
weise nicht Ost und West —, um der nord-
ischen deutschen Traurigkeit, die südliche
französische Fröhlichkeit gegenüberzu-
stellen. Die ganze Episode wäre zu verges-
sen, hätte nicht Hugo Häring 1933 diese
Nord-Südteilung wieder aufgegriffen, nun
aber, um mit umgekehrten Vorzeichen,
den südlichen klassischen geometrischen,
vom nördlichen organhaften gotischen
Geist zu unterscheiden und um damit die
moderne deutsche Architektur speziell
gegen Le Corbusier abzugrenzen und den
neuen Machthabern als germanisch-
deutsch anzutragen.“’ Eine bezeichnende
Peinlichkeit, denn mit Le Corbusier sollte
der Moderne ihre radikale Spitze genom-
men werden, eine Position, die er seit
Stuttgart 1927 einnahm.
Le Corbusiers Chauvinismus gegen-
über Deutschland hatte sich nach der Ein-
ladung, an der WeiBenhofsiedlung mitzu-
bauen, sehr gemäßigt. Mies, der Le Cor-
busier besonders verehrte, wies ihm die
dominierenden Eckplätze der Siedlung zu
und gab ihm freien Gestaltungsraum. Bei
Eröffnung der Werkbundausstellung frag-
te Paul Bonatz noch Joseph Gantner, Re-
dakteur des Neuen Frankfurt, wer denn
dieser ,,Courvoisier“* sei, aber nach der
folgenden heftigen Kritik an seinen Bau-
ten war Le Corbusier in Deutschland zum
radikalen Exponenten moderner Archi-
tektur avanciert. Le Corbusier polarisier-
te wie kein anderer die Meinungen, natür-
lich auch weil er selbst in Vers une archi-
tecture, die theoretischen Extrempositio-
nen geliefert hatte, die nun erst, zusam-
men mit der Praxis in Stuttgart 1927, zün-
deten. Einerseits kopierten nun zahlrei-
che Architekten Details oder seinen gan-
zen Stil®, andererseits erschien z.B. eine
Artikelserie unter dem Titel „Anti-Cor-
busier“”, und sein Schlagwort von der
Wohnmaschine wurde zum meistzitierten
Begriff in der Auseinandersetzung um das
Neue Bauen und diente den konservati-
ven Kritikern dazu, sowohl die alten Res-
sentiments gegen Zivilisation, Maschine
oder Großstadt wieder aufzuwärmen, als
auch das handwerkliche „menschliche“
Bauen dagegen abzugrenzen.
Die Weißenhofsiedlung wurde und wird
bis heute als Demonstration der gleichge-
richteten Bemühungen einer internatio-
nalen Avantgarde gesehen und ausgerech-
net Le Corbusier, der absolute Individua-
list, dient somit als Paradebeispiel für die
von Gropiusseit der Ausstellung 1923 pro-
pagierte „Internationale Architektur“.
Unter diesem Titel veröffentlichte Gro-
WA