S eit 1921, als die ersten GroBstadtskiz-
zen von Le Corbusier in der Zeit-
schrift Styl” erschienen, zählte Charles
Edouard Jeanneret und sein Werk zu den-
jenigen, die die moderne tschechische Ar-
chitektur am stärksten mitgestalteten. Bis
jetzt gibt es jedoch keinen umfassenden
Überblick über seine Beziehungen zur
Tschechoslowakei. Eine Untersuchung
dieses Problems schließt mehrere Themen
ein, wie Le Corbusiers Besuche der Tsche-
choslowakei, Publizität seiner Arbeiten
bis zur Polemik mit Karel Teige, Arbeit
tschechischer Architekten in seinem Ate-
lier, und schließlich auch Le Corbusiers
Einfluß auf die Arbeit tschechischer Ar-
chitekten. Und wir möchten in der vorlie-
genden Studie gerade auf diese Problema-
tik eingehen.
LE CORBUSIERS
BESUCHE DER
TSCHECHOSLOWAKEI
L e Corbusier besuchte die Tschechos-
lowakei viermal: in den Jahren 1911,
1925, 1928 und 1935. Während er die letz-
ten drei Reisen bereits als ein berühmter
Architekt realisierte, die Aufmerksam-
keit der fachlichen Öffentlichkeit, der
Presse und sogar - bei der letzten Reise —
des Films erregte, fand seine erste Reise
nach Prag noch wáhrend seiner Lehrjahre
zur Zeit der k.u.k. Monarchie ,inkognito“
statt. Sie war Bestandteil einer großen
Reise in den Orient, auf der er von seinem
Freund August Klipstein begleitet wurde
und die eine große Inspirationsquelle für
sein ganzes Leben darstellte. Dank Giu-
liano Gresleri? hat sich ihr Itinerarium er-
halten. Beide Freunde kamen nach Prag
Wahrscheinlich am 7. Mai 1911 abends,
spátestens am 8. Mai früh und blieben hier
drei Tage, bis zum 10. Mai, als sie über
Tábor nach Wien weiter reisten. Das alte
Vladimir Slapeta
DIE WIRKUNG IN
DER FERNE
LE CORBUSIER UND
DIE TSCHECHISCHE
ARCHITEKTUR
Prag hat Le Corbusier, zum Unterschied
von Wien, begeistert.” Die von Le Corbu-
sier gemachten Fotografien zeigen die
Stadtteile, die er für sich entdeckte und die
für ihn von Interesse waren: Blick der Ni-
kolauskirche und der Prager Burg von der
Karlsbrücke, Barockstatuen auf der
Karlsbrücke, Statue des Kaisers Karl IV
auf der Terasse des Kreuzherrenplatzes,
Barockfassaden der Bürgerhäuser am
Altstädter Ring. Er entdeckte auch ein
kleines Objekt im rechtsufrigen Teil der
Stadt, das seinen „puritanischen“ Gefüh-
len imponierte: die Kapuzinerkirche des
Heiligen Judas Tadeas am Platz der Repu-
blik. Auch auf dem linken Moldauufer
suchte er ungewöhnliche Partien und De-
tails. Neben der Nikolauskirche und deren
Umgebung fand er die für ihn besonders
interessante anonyme Architektur von
Stadtmauern und Fortifikationen, als
auch viele Details an den Hausportalen
des Goldenen Gäßchens und in der Klein-
seite. Le Corbusier machte in Prag auch
Zeichnungen, die sich jetzt im Museum
der Stadt La Chaux de Fonds befinden sol-
len. Noch nach siebzehn Jahren erinnerte
sich Le Corbusier an seine Eindrücke:
„Das alte Prag gefällt mir sehr. Nicht so
der Veitsdom, aber die alten Häuser no-
bler Proportionen; die Zivilbauten, auch
die bescheidenen, weisen Noblesse auf.
Es ist eine Architektur mediterranen Gei-
stes, ^?
Dem zweiten Besuch ging eine Korre-
spondenz über seine Publikationen in
tschechischen Fachzeitschriften und über
die Vorbereitung seiner Vorträge voraus.
Als am Anfang der 20er Jahre die Zeit-
schrift „L’esprit nouveau“ nach Prag kam,
fanden die tschechischen Architekten im
Jahre 1922 gleichzeitig verschiedene We-
ge, um Kontakte mit Le Corbusier anzu-
knüpfen. Karel Teige und Josef Sima
kleines Foto: Vladimir Karfik
(links), Le Corbusier und Jan A.
Baía, 28.4.1935
grofes Foto: Prag-Kleine Seite, St
Nikolaus Kirche; Foto: Le Corbu-
sier
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