AVIATIK UND ARCHITEKTUR
aeit. Von Katastrophe zur náchsten'ret- — nisch-realisierte Befreiung, als Idee ror- — Natur neu. (8. Buch). — Der andere mo-
tet’ sie sich mit stimmungsgeilen Sensa- — mulierte dies schon Ovid in seinen "Me- — derne Hóhenweg ist die Vertikal-Archi-
tionen, bislang lokal-beschránkte Kata- tamorphosen’: Daidalos: ‘Mag Minos tektur, wo der Blick aus der gebauten
strophen erhalten globale Dimensionen | auch Land und Wasser versperren, steht — Hóhe zur blinden Machtgeste wird. Al-
criegen. uns doch der Himmel offen. Wir werden — les Gebaute ist nur geordneter Steinhau-
diesen Weg gehen. Magerauchallesbe- fen, bestimmt ruiniert zu werden; schon
sitzen, die Luft besitzt Minos nicht'. 1830 schrieb Friedrich von Raumer in
Sprachs’s und in unbekannte Kiinste seinen ‘Briefen aus Paris’ von dieser ka-
tech- — versenkt er seinen Geist und schafft die — tastrophischen Einsicht: Vom Thurme
Notre Dame herab übersah ich gestern
die ungeheure Stadt; wer hat das erste
Haus gebaut, wann wird das letzte zu-
sammenstürzen und der Boden von Paris
aussehen wie der von Theben und Baby-
lon. - Knapp 80 Jahre spáter 1909 bietet
der Blick auf die Metropolen aus dem
Flugzeug kein sentimentales Memento
mori oder Ruinen-Melancholie. Ein
ästhetischer Schauder ergreift Le Cor-
busier: Wir wufiten es; doch wir haiten
keine Ahnung, wie ungeheuerlich, wie
hassenswert diese Unsauberkait, diese
Unaufrichtigkeit der Stadt gegenüber ih-
ren Einwohnern gewesen ist. Das Flug-
zeug hat uns zur Einsicht verholfen. Das
Flugzeug hat den Blick dafür. Das Flug-
zeug klagt an (Sur les 4 routes).
Hôhen-Positionen sind Orte des Stur-
zes, wo gerade in und durch das Stürzen
Realität neu erfahren, klarer erkannt
werden kann. Ernst Jünger hat das in
den ‘Marmorktippen” (1939) formuliert-
Wenn man in den Abgrund stürzt, sol:
man die Dinge in dem letzten Grad der
Klarheit wie durch überschárfte Glüsei
sehen. — Der frühe Gustave Courbet hat
diese Irritation in einem unfertig gelas-
senen Selbstbildnis um 1845 gezeigt
(Abb. 10). ‘Der Verzweifelte oder Der
vor Angst Wahnsinnige' stürzt sich ins
Nichts aus kniender oder aufstehender
Haltung, zeigt mit der rechten Hand in
den Abgrund, der zwischen Selbstbild-
nis und Künstler-Selbst liegt.
Rund 100 Jahre spáter malt Max
Beckmann in New York eines seiner
letzten Gemálde: sich selbst als kopfüber
Stürzender (Abb. 11). Quer schwebt die
Figur durch das Luftmeer, vorbei an
brennenden Wolkenkratzern in das
ätherische Tief, ein Blau mit traumarti-
gen Luftschiffen. Ikarus und Jonas sind
Figuren dieser modernen Odyssee in der
Schrägen als realitätspotentierte Erfah-
rungsmóglichkeiten. 10 Jahre spáter
bricht ein junger Franzose aus der über-
lieferten Tradition: Ives Klein stürzt in
die offene Leere: Aujourd'hui le peintre
de l'espace doit aller effectivement dans
l'espace pour peindre, mais il doit y alle:
sans trucs, ni supercheries, ni non plus en
avion, ni en parachute ou en fusée: il doii
y aller par lui-méme, avec une force indi-
viduelle autonome, en un mot il doit être
NEM u Max Beck Der Stürzende*. 1950 capable de leviter. Schweben ist der po-
ee ee Tb
ituhl, München 1984) @ Abb. 8: L.W. Watrous, Ka- York. ® Abb. 12: Ives hl !'umme dam l'e- | sche Dimensionen: Aufrecht auf dem
A Pen E Me ve Ne A. West sfer ah nk ri
iggestelion Empire State Building, New "York (1230 FAT E W^ — malunsere Herausforderung den Sternen
FuB), das hôher war als der Eiffelturm und bis 1968 _ zu — so das Futuristische Manifest von
^óchstes Gebüude der Welt. € Abb.9:Ilja G. Chash- Photokredit: Cosmospress: 1,3- Sin Zerch | 1907
lik, ,Lenins Platform, 1920, Entwurf in Tusche, 29 x chiv Simmen-Drepper: 5,6,7,8,10, — Deuts‘ à . .
38 cm. € Abb. 10: Gustave Courbet, ,Le désespéré seum: 4- Galerie Gmurzynska: 9 - Karalog: 13.17
ule fou de peur’ 1843-45, Ol auf Papier doubliert auf
^^vyand, 60,5 x 50,5 cm, Nasjonalgalleriet Oslo.