Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

AVIATIK UND ARCHITEKTUR 
aeit. Von Katastrophe zur náchsten'ret- — nisch-realisierte Befreiung, als Idee ror- — Natur neu. (8. Buch). — Der andere mo- 
tet’ sie sich mit stimmungsgeilen Sensa- — mulierte dies schon Ovid in seinen "Me- — derne Hóhenweg ist die Vertikal-Archi- 
tionen, bislang lokal-beschránkte Kata- tamorphosen’: Daidalos: ‘Mag Minos tektur, wo der Blick aus der gebauten 
strophen erhalten globale Dimensionen | auch Land und Wasser versperren, steht — Hóhe zur blinden Machtgeste wird. Al- 
criegen. uns doch der Himmel offen. Wir werden — les Gebaute ist nur geordneter Steinhau- 
diesen Weg gehen. Magerauchallesbe- fen, bestimmt ruiniert zu werden; schon 
sitzen, die Luft besitzt Minos nicht'. 1830 schrieb Friedrich von Raumer in 
Sprachs’s und in unbekannte Kiinste seinen ‘Briefen aus Paris’ von dieser ka- 
tech- — versenkt er seinen Geist und schafft die — tastrophischen Einsicht: Vom Thurme 
Notre Dame herab übersah ich gestern 
die ungeheure Stadt; wer hat das erste 
Haus gebaut, wann wird das letzte zu- 
sammenstürzen und der Boden von Paris 
aussehen wie der von Theben und Baby- 
lon. - Knapp 80 Jahre spáter 1909 bietet 
der Blick auf die Metropolen aus dem 
Flugzeug kein sentimentales Memento 
mori oder Ruinen-Melancholie. Ein 
ästhetischer Schauder ergreift Le Cor- 
busier: Wir wufiten es; doch wir haiten 
keine Ahnung, wie ungeheuerlich, wie 
hassenswert diese Unsauberkait, diese 
Unaufrichtigkeit der Stadt gegenüber ih- 
ren Einwohnern gewesen ist. Das Flug- 
zeug hat uns zur Einsicht verholfen. Das 
Flugzeug hat den Blick dafür. Das Flug- 
zeug klagt an (Sur les 4 routes). 
Hôhen-Positionen sind Orte des Stur- 
zes, wo gerade in und durch das Stürzen 
Realität neu erfahren, klarer erkannt 
werden kann. Ernst Jünger hat das in 
den ‘Marmorktippen” (1939) formuliert- 
Wenn man in den Abgrund stürzt, sol: 
man die Dinge in dem letzten Grad der 
Klarheit wie durch überschárfte Glüsei 
sehen. — Der frühe Gustave Courbet hat 
diese Irritation in einem unfertig gelas- 
senen Selbstbildnis um 1845 gezeigt 
(Abb. 10). ‘Der Verzweifelte oder Der 
vor Angst Wahnsinnige' stürzt sich ins 
Nichts aus kniender oder aufstehender 
Haltung, zeigt mit der rechten Hand in 
den Abgrund, der zwischen Selbstbild- 
nis und Künstler-Selbst liegt. 
Rund 100 Jahre spáter malt Max 
Beckmann in New York eines seiner 
letzten Gemálde: sich selbst als kopfüber 
Stürzender (Abb. 11). Quer schwebt die 
Figur durch das Luftmeer, vorbei an 
brennenden Wolkenkratzern in das 
ätherische Tief, ein Blau mit traumarti- 
gen Luftschiffen. Ikarus und Jonas sind 
Figuren dieser modernen Odyssee in der 
Schrägen als realitätspotentierte Erfah- 
rungsmóglichkeiten. 10 Jahre spáter 
bricht ein junger Franzose aus der über- 
lieferten Tradition: Ives Klein stürzt in 
die offene Leere: Aujourd'hui le peintre 
de l'espace doit aller effectivement dans 
l'espace pour peindre, mais il doit y alle: 
sans trucs, ni supercheries, ni non plus en 
avion, ni en parachute ou en fusée: il doii 
y aller par lui-méme, avec une force indi- 
viduelle autonome, en un mot il doit être 
NEM u Max Beck Der Stürzende*. 1950 capable de leviter. Schweben ist der po- 
ee ee Tb 
ituhl, München 1984) @ Abb. 8: L.W. Watrous, Ka- York. ® Abb. 12: Ives hl !'umme dam l'e- | sche Dimensionen: Aufrecht auf dem 
A Pen E Me ve Ne A. West sfer ah nk ri 
iggestelion Empire State Building, New "York (1230 FAT E W^ — malunsere Herausforderung den Sternen 
FuB), das hôher war als der Eiffelturm und bis 1968 _ zu — so das Futuristische Manifest von 
^óchstes Gebüude der Welt. € Abb.9:Ilja G. Chash- Photokredit: Cosmospress: 1,3- Sin Zerch | 1907 
lik, ,Lenins Platform, 1920, Entwurf in Tusche, 29 x chiv Simmen-Drepper: 5,6,7,8,10, — Deuts‘ à . . 
38 cm. € Abb. 10: Gustave Courbet, ,Le désespéré seum: 4- Galerie Gmurzynska: 9 - Karalog: 13.17 
ule fou de peur’ 1843-45, Ol auf Papier doubliert auf 
^^vyand, 60,5 x 50,5 cm, Nasjonalgalleriet Oslo.
	        

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