Schnitt durch
die Familistére im Guise
Das Wohndorf besteht aus einer Hausgruppe von acht Wohneinheiten, die so angeordnet sind, daß in der Mitte ein gemeinsamer
Hof, sozusagen ein Dorfplatz entsteht. Der verglaste Hof ist Verteilerraum, Solarkollektor, Treffpunkt, Raum für Feste, Feiern,
Konzerte und vor allem ein Eldorado für die Kinder.
D ie westliche Zivilisation hat mit der Aufklärung eine we-
sentliche Umorientierung von geistigen auf materielle
Werte des Lebens erfahren. Die Phase der Industrialisierung ver-
stárkte diese Tendenz und führte schließlich zur Auflösung der
vorherrschenden Familienstruktur, zu der leidvoll beklagten Si-
tuation der Kleinfamilie oder noch treffender ausgedrückt der
„Nuklearfamilie“ oder „Restfamilie“.
Die Kleinfamilie, als Ergebnis einer egoistischen und allein
materiell orientierten Denkweise, hat zu den bekannten Nachtei-
len geführt, mit deren Problemen wir nun zu ringen haben. Ge-
wiß, die Kleinfamilie hat ihre Vorteile, besonders edel sind sie
aber nicht. Der Zwang zur größeren Beweglichkeit in der indu-
striellen Gesellschaft ist einer der wichtigsten Gründe für die Ent-
stehung dieser kleinen Familienform. Sie bietet ihren Mitglie-
dern vor allem mehr Unabhängigkeit. Selbstbestimmte Indivi-
dualität auszuleben, ist nur hier möglich. Die Kleinfamilie ist also
Ausdruck sehr egoistischer Wünsche. Die Familie ist intimer ge-
worden, allerdings auch instabiler.
Als Beweis für diese angesprochene Instabilität sei hier nur der
bekannte Wiener Sozialpsychiater Hans Strozka erwähnt, der in
einer Untersuchung aus den fünfziger Jahren folgendes berich-
tet:
„Die Familienforschung hat Anhaltspunkte dafür gegeben,
daß die fehlende Nachbarschaftsbeziehung mit den gestörten in-
nerfamiliären Beziehungen („unbefriedigte Ehen“) in ursächli-
chem Zusammenhang stehen. Die isolierte Kleinfamilie läuft
heute Gefahr, auch in ihren Binnenbeziehungen zu erstarren
(‚Fassadenfamilien’), was wieder krankmachend auf die einzel-
nen Familienmitglieder wirken kann. Vor allem die im Haushalt
isoliert lebende Frau erscheint hier besonders gefährdet. In dem
Maße, in dem wieder eine Einbettung in eine Kleingruppe (über-
schaubare Wohngruppe, Pfarrgemeinde u.dgl.) stattfindet,
kommt vielfach auch der innerfamiliäre Dialog wieder in Gang,
womit die Gefahr eines Kontaktabbruchs (z.B. Delinquenz oder
Abspaltung von Jugendlichen in einer ,Gegenkultur wie
Rauschgiftwelle) oder echte kórperliche oder psychische Erkran-
kungen u.U. vermieden werden kónnte. Das Wiener Ergebnis
hat erhebliche Stórungen in zwei wesentlichen Bereichen festge-
stellt: nàmlich in fast fehlenden Nachbarschaftsbeziehungen so-
wie 6095 (1) unbefriedigten Ehen“.
Daß das Problem der „Isolation“ nicht zu leicht genommen
werden darf, zeigt mit aller Deutlichkeit der Selbstmordspezialist
Erwin Ringel auf, der dieses präsuizidale Syndrom erkannt hat:
„Nach den ersten Schritten der emotionellen Einengung und der
damit verbundenen Kontaktarmut folgt der Akt der Aggression
— wobei die Aggression ihr Ziel und ihr Opfer verlangt; ist dieses
Ziel in erreichbarer Nàhe nicht zu treffen, fixiert der potentielle
Selbstmórder einen ihm jederzeit habhaften Punkt als Ziel seiner
aufgestauten Aggressionen: sich selber (aus ,Endstation Selbst-
mord")*.
Scheinbar bedeutungslose Probleme und Belastungen kónnen
sich in der Einsamkeit und Isolation zu einer existenzbedrohen-
den Krise auswachsen, wenn man sie allein bewáltigen mu. In
früheren Gesellschaftsformen, für die in groDen, eng zusammen-
hängenden Familienverbänden ein hohes Maß an gegenseitiger
Hilfe charakteristisch war, war auch die Problembewältigung
leichter
Sicherlich sind aber die haupsächlich Leidtragenden bei der
Kleinfamiliengesellschaft: die Kinder. Was für diese die Erzie-
hungsbedingungen entscheidend verschlechtert hat, ist die „Ent-
leerung“ des Hauses. Bezugspersonen in der frühesten Kindheit,
das heißt, der Personenkreis, mit dem die Kinder zusammenle-
ben, während sie sich auf das Leben vorbereiten (in den ersten
drei Lebensjahren), ist auf die kleinstmögliche Zahl zusammenge-
schrumpft. Die Mutter muß allein die Aufgabe leisten, die vorher
ein ganzer Familienverband in mehr oder weniger Intensität sich
teilte. Die Zahl der Kinder in den Familien nimmt ab, und schon
ein Viertel aller Kinder (in Wien wesentlich mehr) wachsen als
Einzelkinder in ihrer Familie auf, schlimmstenfalls, wenn außer-
häusliche Kontakte nicht möglich, in unausweichlicher Be-
schränkung auf eine Person, die Mutter. Das ist eine Situation,
die für Neurosen anfällig macht und im übrigen unsere Mütter to-
tal überfordert.
In dieser Situation ist der Einkindschock eine unausweichliche
Folge. Da hilft auch keine staatliche Hilfe für die Familien - da
hilft auch nicht das TV —Color im Kinderzimmer, das keinen
Freund ersetzen kann — da hilft auch keine DIN — Norm über dic
GrôBe eines Kinderzimmers, denn die Kinder spielen, wenn sie
nicht fortgejagt werden, immer in der Nàhe der Eltern — da fehlt
das überschaubare Umfeld, das je nach Alter des Kindes variabel
sein muß — da fehlt das Abenteuer der kindlichen Entdeckungs-
reisen und da fehlen Bezugspersonen wie z.B. der Märchenonkel
u.a.m.
Treffend wurde in einem Buch formuliert: Jedes Kind sollte
100 Eltern haben. Wo besteht eine Tendenz in dieser Richtung
heute tatsächlich? Wo werden heute Worte wie „Wer Kindern
Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“ (J. Tandler um 1900) in
die Tat umgesetzt — wo werden beim Wohnbau kindliche Nut-
zungsgewohnheiten und Entwicklungsphasen berücksichtigt?
Wen wundert's, wenn die im sozialen Wohnbau arbeitsaufwendi-
ger und konfliktreicher werdende Kindererziehung dazu führt
daf der Einkindschock zu Einzelkindern führt?
INNOVATION AUS DER 3. WELT
Man scheut sich, tatsächlich etwas von den „Unterentwickelten“
lernen zu müssen. In Wirklichkeit besteht das, was wir arrogan-
terweise als Unterentwicklung bezeichnen, lediglich im materiel-
len, niemals aber im menschlich — geistigen Lebensbereich, oder
was sagen sie dazu, daß
€ Menschenihre Probleme und Meinungsverschiedenheiten so-
lange miteinander besprechen, bis sie einander verstehen und
überzeugen kónnen, so dab Kampfabstimmungen nicht notwen-
dig sind;
Q in einem Dorf selbstverstándlich alle zusammenhelfen. wenn
einer ein Haus baut;
G aite Menschen in der Familie bleiben, nicht nur geduldet, son-
dern geachtet wegen ihrer Lebenserfahrung und Weisheit:
6 Kranke und Behinderte keine lástigen Anhángsel sind, son-
dern selbstverstàndlich ein Teil der Gemeinschaft, für die eigene
Felder angelegt und gemeinsam bebaut werden;
® cs Menschen gibt, denen das Miteinander — Reden wichtiger
ist als Geldverdienen?
17