Ein Modell? Nein, etwas ganz Normales in jenen Breiten, die
wir als Entwicklungsländer bezeichnen. Offenbar erkennen wir
noch nicht alle am eigenen Leib, wie sehr unsere Gesellschaft
durch die Jagd nach materiellen Gütern erkrankt ist. Erschüt-
ternd sind daher Berichte von wissenschaftlichen Erhebungen in
erst vor kurzer Zeit erbauten Wohnsiedlungen, mit welchen
Fehleinschätzungen manche Politiker Wohnbedürfnisse zu be-
friedigen versuchen und welche tatsächliche „Unwirtlichkeit“
(Mitscherlich) dabei geschaffen wurde (Fehleinschätzungen.
welche großteils sogar auf wissenschaftlicher Basis stehen, auf so-
ziologischen empirischen Erhebungen, auf rein statistischen
Werten, die eher im Bereich der Marktwirtschaft gute Erfolge er-
zielen, niemals aber im Wohnbau Bedeutung erhalten dürften,
denn ich wähle die Wohnung nicht nach den Prinzipien des Auto-
kaufs — wo ich nach Lust und Laune Probefahrten absolvieren
kann. soviel ich will. ).
Die Überschaubarkeit dieser Compounds, dieser Clans, dieser
Lebensgemeinschaften in der 3. Welt, ist eine wesentliche Vor-
aussetzung für das Entstehen des uns fehlenden Gefühls der
.Heimat", des Echt—Daheim—zu—seins in unseren Städten.
Die Wertschátzung und Beachtung der menschlichen Werte aller
Mitglieder einer derartigen Gesellschaft läßt keinen Freiraum für
die Entstehung von Ghettos (Altersheime, Kinderhorte u.dgl.).
Aus diesen Überlegungen entstand bereits 1860 in Frankreich
ein „sozialer“ Wohnbau (der übrigens heute noch in Benützung
ist), mit einer innenliegenden zentralen Spiel — und Festhalle und
einer Reihe von Gemeinschaftseinrichtungen wie Musikpavil-
lion, Kaffeehaus, Waschküche u.a.m. (Familistére — Experiment
von J.B. A.Godin in Guise/Aisne). Gedanklich war man da bei
Charles Fourier und wollte eine éducation intégrale et perman-
ente"schaffen.
Das war ein echtes soziales Experiment, das seltsamerweise
nur Insidern bekannt geblieben ist und auch 100 Jahre ohne Wei-
terentwicklung blieb.
Gleiche Überlegungen führten in China zu einer sozialpolitisch
hochinteressanten Revitalisierung der alten Atriumhäuser: Die-
se traditionellen ebenerdigen Häuser, die sich um geschlossene
Innenhöfe gruppieren, erfüllen heute eine wertvolle soziale
Funktion - mehrere Familien wohnen um den von Lárm und Ver-
kehrsgestank geschützten Innenhof und bilden so eine sich ge-
genseitig unterstützende Einheit in dem sonst sehr zentral be-
herrrschten Land.
UBERLEGUNGEN FUR EIN „SOZIALES“
WOHNMODELL
Nach m.E. fehlt in unserer Gesellschaft in den meisten Bereichen
zwischen der vielgerühmten Keimzelle des Staates, der Familie
einerseits, und dem allmächtigen, immer mächtiger und alles um-
faßender (...von der Wiege bis zum Grabe...) werdenden Staat
andererseits, ein geeignetes Bindeglied, das in den städtischen
Konglomerationen, jene fehlende Überschaubarkeit bietet, die
wir unter Kennwort Großfamilie, Clan, Compounds, Sippe, Her-
de, Heimat u.a.m. kennen und heute noch in den Ländern der
3. Welt voll funktionsfähig ist. Dieses Fehlen hat im vergangenen
Jahrhundert zu verschiedenen, teils religiösen Bewegungen ge-
führt (Shaker etc.), führte in der Folge immer wieder zu diversen
Überlegungen (Otto Bauer um 1910, die Ideen des Stroikom in
Rußland u.a.m.). In den fünfziger Jahren begann dann speziell
unter den Jugendlichen in Amerika und Westeuropa eine Bewe-
gung, die teilweise übers Ziel schoB — die Kommunen, mit extre-
mer Auslegung des Gruppengedankens und Auflósung der mo-
nogamen Ehe. Um diese Art der Kommunen istes in letzter Zeit
wieder stiller geworden. Zu stark war der Verzicht auf die eigene
Persönlichkeit in diesen Gemeinschaften, zu stark war in der Fol-
ge die Fluktuation. Es zeigt sich, daB diese Erscheinung fiir die
Jugendlichen eine Art Ubergangsphase in ihrem Leben war. Sie
haben sich als ungeeignet für eine menschenwürdige Gestaltung
familiárer und auferfamiliárer Beziehungen erwiesen. In einer
Bestandsaufnahme der Kommunen in Holland und in Dänemark
wird resümierend festgestellt, daß die volle Wahrung der Indivi-
dualität des einzelnen eine wesentliche Voraussetzung für eine
familienüberspannende Gemeinschaft ist.
Wesentlich für das Funktionieren solcher Gemeinschaften ist
auch die Voraussetzung, daß jeder bereit sein muß, selber zu ge-
ben, nicht nur zu nehmen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß jene
von einer Gruppe abspringen, die nicht bereit sind, in demsel-
ben Maße zu geben. Außerdem ist ein höheres Maß an „sozialer
Toleranz“ erforderlich oder anders formuliert: die gelebte De-
mokratie ist in einer überschaubaren Gemeinschaft Grundvor-
aussetzung für ein gedeihliches Miteinander.
„Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennen-
zulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da
es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine
Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich“
(Saint-Exupéry). Es gilt wieder Freunde zu finden. die die be-
klemmende Enge der Kleinfamilie sprengen und so auch innerfa-
miliär wieder zu ciner Stabilisierung beitragen.
Eine Hauptbedingung für eine kommunikationsbegünstigen-
de Planung ist deshalb m.E. die Überschaubarkcit, die Móglich-
keit, sich selber in einem überschaubaren Bereich (der mich nicht
erdrückt) zurechtzufinden, sich durch Eigenleistung zu orientie-
ren, zu artikulieren und so den eigentlichen (Stellen—)Wert und
Standort im überschaubaren und erlebbaren Sozialgefüge zu er-
kennen.
RESUMEE
Woran krankt unser sozialer Wohnungsbau noch immer?
Krankt er daran, daß wir Architekten für unsere Aufgaben keine
gesunden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben? Ist es
richtig, wie Eberhard Richter sagt, daß jeder Mensch als soziales
Wesen geboren wird, und nur die Umwelt macht viele von uns zu
Asozialen?
Sind wir Architekten an der Umweltsituation beteiligt?
Sind wir hier ohnmächtig oder untätig?
Befolgen wir den Rat von Frank Lloyd Wright und geben wir un-
serer Architektur, speziell im Wohnbau, einen Inhalt, eine Philo-
sophie,
@ bleiben wir nicht in der leeren Oberflächlichkeit, in reiner
Selbstzweckästhetik stecken,
© beurteilen wir nicht den Wohnbau der dreiBiger Jahre allcin
aus ästhetischen Gesichtspunkten, nicht nach der Qualität der
Ornamentik oder der plastischen Erscheinung, sondern nach
dessen geistigem Inhalt und dem Engagement für die arbeitende
Bevölkerung?
So wie in den japanischen Gärten jeder Baum, jeder Weg und
jeder Stein im Wasser seine genaue Lage, seine Bedeutung und
seine Wirkung auf den Menschen im Shintoismus hat, so sollten
wir unserem sozialen Wohnbau mehr Inhalt als bloße Erfüllung
des Bedarfes nach einem Dach über dem Kopf geben.
Dann würden wir sicher nicht mehr diese „Ungeheuer“(von
1945 bis heute) von inhumanen Massenbehausungen bauen oder
die Absicht haben, in einer inhumanen Umgebung (z.B. Schwe-
chater Einflugschneise) Menschen zu „zwingen“, sich dort eine
„Heimat“ zu schaffen.
In diesem Sinn wären längst alle Bauträger aufgerufen, den
Wohnbau nicht als kapitalorientierte Organisation (z.B. Grund-
stücksorganisation) anzusehen, sondern als einen zutiefst ge-
meinnützigen Dienst am Menschen zu erkennen: dem Menschen
eine Heimat zu schaffen und nicht nur vier Wände zu produzie-
ren.
Dazu bedarf es aber der Menschen, für die gebaut wird, dazu
muß ich die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen kennen-
lernen,
® dazu muß ich in diesem fast intimen Lebensbereich endlich
das Subsidiaritätsprinzip akzeptieren, daß wir den Menschen das
selbstgewählte Glück gônnen und nicht alles und jedes von huma-
nitär unzuständiger Stelle vorbestimmen,
® dazu muß ich den Betroffenen als wichtigste Person für eine
gedeihliche Planung erkennen und akzeptieren,
® dazu bedarf es endlich der Anerkennung von zutiefst demo-
kratischen Grundsätzen einer humanitären Planung.
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