Evolution und Stammesgeschichte der Angiospermen
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men Mosaikevolution führen (StTeBBINs 1974), was die außerordentliche
Heterobathmie der Merkmale bei Angiospermen (TAKHTAJAN 1973) erklärt.
Mehrfach erfolgte bei den Angiospermen eine Anpassung an ganz verschiedene
ökologische Bedingungen: erstmals nach Entstehung der Angiospermen (vgl.
unten), später innerhalb einzelner Gruppen in ähnlicher Weise erneut. Da nun
die Zahl möglicher Anpassungen zumindest im morphologisch-anatomischen
Bereich relativ begrenzt ist, sind. Vorgänge der Parallelevolution und der Kon-
vergenz zwischen Arten ganz verschiedener Gattungen und Familien häufig.
Diese Erscheinungen erschweren die Homologieforschung außerordentlich;
auch heute sind mit Sicherheit viele der Konvergenzen und Parallelentwick-
Jungen noch nicht erkannt, sondern werden fälschlich als Homologien (Syn-
apomorphien) und damit als Beweis einer phylogenetischen Zusammengehö-
rigkeit angesehen. Fast alle neueren Änderungen in der Angiospermen-Gliede-
rung beruhen auf dem Nachweis falscher Homologisierungen. Beispielsweise
wurden früher zahlreiche Windbestäuber als „Amentiferae“ zusammengefaßt.
Heute wissen wir, daß sich der Übergang von der ursprünglichen Tierbestäu-
bung zur Windbestäubung vielfach getrennt vollzogen hat. (Eine sekundäre
Rückkehr von der Wind- zur Tierbestäubung, wie sie bei Ficus vorliegt, ist viel
seltener. Sie zeigt aber, daß „einfache“ Evolutionsvorgänge reversibel sein kön-
nen.) Die extreme Mosaikevolution der Angiospermen hat eine weitere Folge:
Zwar sind die Gattungen einer Familie durch bestimmte Merkmale charakteri-
siert und ebenso gibt es Familien-Merkmale, welche verwandte Familien tren-
nen; aber beim Vergleich vieler verschiedener Familien stellt man fest, daß fast
jedes Merkmal, das zur Kennzeichnung von Familien oder Reihen verwendet
wird, in anderen Gruppen auf der Ebene der Gattungen oder gar der Arten
variiert (STEBBINS 1974).
Die Ausbildung unterschiedlicher morphologischer Merkmale, ausgehend
vom gleichen Grundbauplan, ist vor allem verursacht durch Mutationen im
Bereich der genetischen Regulationssysteme (vgl. KuLL 1975). Offenbar wird
dann durch solche Mutationen das Programm (das zeitliche Muster) der Akti-
vität von Genen verändert. Die Ausbildung von Merkmalen, die auf einfachen
Veränderungen dieses Entwicklungsmusters beruht, ist sicherlich reversibel.
Solche Merkmale sind daher als kennzeichnende apomorphe Merkmale wenig
geeignet. Die Ausbildung mancher anderer Merkmale erfordert hingegen grö-
ßere Veränderungen im Genom und eine Beteiligung vieler Gene; derartige
Merkmale sind vermutlich viel weniger leicht reversibel. STEBBıns (1979) hat
auf der Basis derartiger Überlegungen für einige wichtige Merkmalskomplexe
angegeben, wie gut oder schlecht sie reversibel sein dürften. Leicht reversibel
und daher als Synapomorphien von geringem Wert sind: baum- oder strauch-
förmiges Wachstum; Internodienlänge; Blatt- und Blütengröße. Weniger gut,
aber immer noch nicht selten reversibel sind: Anzahl der einzelnen Blütenor-
gane in der Blüte; morphologische Übergänge zwischen verschiedenen Blattor-
ganen reproduktiver Sprosse. Kaum reversibel sind: eingetretene Spezialisie-
rungen des Gefäßsystems (allerdings ist ein Verlust einfacher Tracheen in pri-
mitivem Holz denkbar, vgl. Youne 1981); die typische Phloemdifferenzierung
der Angiospermen; die Fusion von Blütenorganen und der Übergang zur rein
krautigen Wuchsform mit Verlust des sekundären Dickenwachstums. Wenn
Jh. Ges. Naturkde. Württ. 138 (19%.