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Ich möchte Ihnen nur in kurzem eine Übersicht geben über
eine Anzahl der wichtigsten und am meisten durchdachten Theorien,
welche am Ende des letzten Jahrhunderts einander gegenüberstanden
und mit welchen diejenigen Forscher, welche auf der von SPALLANZANI
geschaffenen experimentellen Grundlage weiterbauten, zunächst ab-
zurechnen hatten.
Im Vordergrund des Interesses stand zu jener Zeit der Gegen-
satz zwischen der Lehre von der Präformation oder Präexistenz des
Keimes und der Theorie der Postformation, oder, wie wir Jetzt
diese beiden Richtungen zu benennen pflegen, zwischen der alt-evolu-
tionistischen und alt-epigenetischen Schule.
Die hauptsächlich von HALLER und BonneT ausgebildete Theorie
der Präexistenz oder Evolution nahm an, dass das neue Individuum
nicht bloss der Materie nach, sondern auch schon in seiner wesent-
lichen Form bereits vor der Befruchtung im Kierstock des weib-
lichen Tieres vorhanden sei und dass die Befruchtung nur die äussere
Bedingung für die weitere Entwickelung desselben sei. Sämtliche
Teile und Organe, welche der fertige Organismus späterhin zeigt,
sind im Keime in involvierter Form vorhanden und werden durch
den Akt der Befruchtung zur Entfaltung gebracht. In folgerichtiger
Weise nahmen die Vertreter dieser Lehre ferner an, dass im Keim
des neuen Individuums bereits auch schon die Keime aller folgenden
Generationen in allen wesentlichen Teilen enthalten sind, und um-
gekehrt, dass schon am 1. Schöpfungstage in dem zuerst geschaffenen
weiblichen Individuum jeder Tierspecies alle folgenden Generationen
in eingeschachtelter Form präexistiert haben.
Was die specielle Wirkung des Befruchtungsvorganges selber
anbelangt, so wurde in der Regel die Lehre vertreten, dass das
männliche Zeugungsprodukt, also der Samen, nur den Anstoss zur
Entwickelung des neuen Individuums gebe. Da aber nach dem da-
maligen Stand der Kenntnisse, wenigstens bei den höheren Tieren,
eine direkte Berührung des im Eierstock befindlichen Keimes mit
der Samenmasse ausgeschlossen schien, so wurde nach dem Vorgang
von SWAMMERDAM und MALPIGHI angenommen, dass von dem Samen ein
flüchtiger Stoff, der Samendunst oder die Aura seminalis ausgehe,
welche durch die Blutgefässe hindurch oder auf irgend einem anderen
Wege, etwa in Form einer Bewegungsübertragung, den Keim beeinflusse.
Im Gegensatz zu den Präformisten lehrten die Postformisten
oder Epigenetiker, vor allem C. F. WoLrr und BLUMENBACH, dass die
neuen Individuen materielle Erzeugnisse der zeugenden Individuen