2. Wellen und Gezeiten des Festlandes.
Von A. Schmidt.
Dafür, dass die starre Erdrinde an dem Wechsel von Ebbe und
Flut, wie ihn das Meer zeigt, ganz unbeteiligt sein sollte, ist noch
nie ein theoretischer Grund gefunden worden. Im Gegenteil, die
Versuche der Mathematiker, wie z. B. Lord Kz1Lvin’s, den Betrag
etwaiger Festlandsgezeiten als Folgen der Anziehungsdifferenzen von
Mond und Sonne auf die zu- und abgekehrte Erdseite zu berechnen,
lassen merkliche Gezeitenänderungen auch dann noch als wahrschein-
lich erkennen, wenn der ganze Erdball von einer Starrheit gleich
der des gehärteten Stahls wäre. Bei der Kompliziertheit des mathe-
matischen Problems der Flutbewegung und bei unserer Unbekannt-
schaft mit den Zuständen in den Tiefen des Erdballs, mit dem Ver-
halten der Materie unter den allen unseren physikalischen Versuchen
spottenden, da unten herrschenden Druckkräften, ist es angezeigt,
unter Zurückstellung der Theorie zunächst den Weg des Versuchs
zu betreten und über etwaige Bewegungen der Erdkruste möglichst.
genaue Beobachtungen und Messungen anzustellen.
Der kleinere Teil der lebenden Menschen ist in der Lage, ein-
mal ein Erdbeben körperlich wahrgenommen zu haben, und daher
hat die Macht der Gewohnheit das unbewusste Gefühl der Sicherheit
bestärkt, das der unbeweglichen Festigkeit des Erdbodens unbedingtes
Vertrauen schenkt. Nicht bloss der Laie, sondern gerade derjenige
Forscher, welchem eine mangelnde Festigkeit des Standortes am
ersten zum Bewusstsein kommen muss, der Astronom, verschliesst
sich solange als möglich der Annahme von Veränderungen in der
Lage des Standortes und von Bewegungen der Erdkruste, indem er
viel lieber die kleinen und kleinsten Unregelmässigkeiten in der
Richtung der Fernrohrbilder, welche ihm die Erfahrung zeigt, ganz
aus Unregelmässigkeiten des optischen Verhaltens der Atmosphäre
ableitet. In der That ist solchen Refraktionsstörungen auch der
grösste Teil der teils langsameren, teils rascheren Veränderungen im
regelmässigen Gang der Gestirne zuzuschreiben, welche die Zeiten
des Aufgangs und Untergangs verschieben, welche das Funkeln der
Sterne erzeugen, welche das astronomische Sehen zu einer durch
Übung zu erwerbenden Fertigkeit machen, und welche bei photo-
graphischen Aufnahmen der Fixsterne die Bewegung der Platte von
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