Full text: Jahreshefte des Vereins für Vaterländische Naturkunde in Württemberg : zugl. Jahrbuch d. Staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart (Bd. 53, 1897)

2. Wellen und Gezeiten des Festlandes. 
Von A. Schmidt. 
Dafür, dass die starre Erdrinde an dem Wechsel von Ebbe und 
Flut, wie ihn das Meer zeigt, ganz unbeteiligt sein sollte, ist noch 
nie ein theoretischer Grund gefunden worden. Im Gegenteil, die 
Versuche der Mathematiker, wie z. B. Lord Kz1Lvin’s, den Betrag 
etwaiger Festlandsgezeiten als Folgen der Anziehungsdifferenzen von 
Mond und Sonne auf die zu- und abgekehrte Erdseite zu berechnen, 
lassen merkliche Gezeitenänderungen auch dann noch als wahrschein- 
lich erkennen, wenn der ganze Erdball von einer Starrheit gleich 
der des gehärteten Stahls wäre. Bei der Kompliziertheit des mathe- 
matischen Problems der Flutbewegung und bei unserer Unbekannt- 
schaft mit den Zuständen in den Tiefen des Erdballs, mit dem Ver- 
halten der Materie unter den allen unseren physikalischen Versuchen 
spottenden, da unten herrschenden Druckkräften, ist es angezeigt, 
unter Zurückstellung der Theorie zunächst den Weg des Versuchs 
zu betreten und über etwaige Bewegungen der Erdkruste möglichst. 
genaue Beobachtungen und Messungen anzustellen. 
Der kleinere Teil der lebenden Menschen ist in der Lage, ein- 
mal ein Erdbeben körperlich wahrgenommen zu haben, und daher 
hat die Macht der Gewohnheit das unbewusste Gefühl der Sicherheit 
bestärkt, das der unbeweglichen Festigkeit des Erdbodens unbedingtes 
Vertrauen schenkt. Nicht bloss der Laie, sondern gerade derjenige 
Forscher, welchem eine mangelnde Festigkeit des Standortes am 
ersten zum Bewusstsein kommen muss, der Astronom, verschliesst 
sich solange als möglich der Annahme von Veränderungen in der 
Lage des Standortes und von Bewegungen der Erdkruste, indem er 
viel lieber die kleinen und kleinsten Unregelmässigkeiten in der 
Richtung der Fernrohrbilder, welche ihm die Erfahrung zeigt, ganz 
aus Unregelmässigkeiten des optischen Verhaltens der Atmosphäre 
ableitet. In der That ist solchen Refraktionsstörungen auch der 
grösste Teil der teils langsameren, teils rascheren Veränderungen im 
regelmässigen Gang der Gestirne zuzuschreiben, welche die Zeiten 
des Aufgangs und Untergangs verschieben, welche das Funkeln der 
Sterne erzeugen, welche das astronomische Sehen zu einer durch 
Übung zu erwerbenden Fertigkeit machen, und welche bei photo- 
graphischen Aufnahmen der Fixsterne die Bewegung der Platte von 
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