Full text: Jahreshefte des Vereins für Vaterländische Naturkunde in Württemberg : zugl. Jahrbuch d. Staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart (Bd. 67, 1911)

. LXIX — 
in dem er lebt; dasselbe gilt vom Wildschwein. Für diese Tiere könnte 
höchstens die unbewaldete Ebene eine Grenze sein, obwohl mir darüber 
nichts bekannt ist. Noch anders ist die Verbreitung des Rehes. Das 
Reh lebt überall in den Vogesen, es lebt aber auch auf dem Felde, 
weit vom Walde entfernt, wenn es nur einige Büsche zu seinem Schutze 
findet. Dafür gelten wieder besondere Verbreitungsgesetze. Danach 
wird es klar, daß etwa in einer Gegend, wo die Wasserscheiden be- 
waldet, die Ebenen aber Steppen sind, jene für Steppentiere Grenzen 
bilden können. 
Auf jeden Fall könnte unsere Forschung auch in dieser Frage 
mit zur Entscheidung beitragen, da wir ja in Württemberg in Rhein 
und Donau zwei Flußsysteme haben und nach der Wasserscheiden- 
theorie die Grenze zwischen diesen beiden Flußsystemen auch eine 
tiergeographische Grenze sein müßte. Die Erfahrungen in Amerika 
sprechen jedenfalls nicht zugunsten dieser Theorie. 
Ich glaube hiermit gezeigt zu haben, daß der tiergeographischen 
Kleinforschung noch praktische Bedeutung für die Zukunft zukommt. 
Doch hiermit sind die zoogeographischen Aufgaben noch nicht erschöpft. 
Die Zoogeographie muß auch alle Veränderungen im Auge haben, die in 
der Tierwelt vorgehen, und die zum Teil, wenigstens soweit es sich 
um Säugetiere handelt, auch unsere Landwirtschaft aufs engste be- 
rühren. Ich meine das Vordringen gewisser Tiere. Am bekanntesten 
ist ja davon in weiten Kreisen das Vordringen der Wanderratte, die 
im 18, Jahrhundert von Osten kommend Europa unaufhaltsam über- 
schwemmte. Sie verdrängte dabei ihre schwächere Verwandte, die 
AMausratte, die gleichfalls, allerdings einige Jahrhunderte früher, erst in 
Europa eingewandert war, Nur noch an wenigen abgelegenen Stellen 
konnte sich die Hausratte halten, und in Württemberg glaubte man 
sie wohl schon erloschen, bis in diesem Jahr, das überhaupt den 
Nagern, wie es scheint, sehr günstig war, das Kgl. Naturalienkabinett 
wieder einige Exemplare der Hausratte aus Württemberg erhielt. 
Nun ist wohl die Mehrzahl von Ihnen der Ansicht, diesem Kampfe 
zwischen Haus- und Wanderratte komme lediglich ein zoologisches 
Interesse zu. Dem ist aber nicht so. Nach einem Artikel in der 
Münchener Medizinischen Wochenschrift! wird der Erreger der Pest 
durch einen Floh, Loemopsylla cheopis, übertragen. Dieser schmarotzt 
aber hauptsächlich auf der Hausratte. Nun wissen wir zwar nicht 
genau, wann die Hausratte nach Europa kam, aber sicher ist dies im 
1. Jahrtausend n. Chr. geschehen. Und im Jahre 542 n. Chr. tritt 
die erste Pestepidemie auf. Andererseits wird der Einfall der Wander- 
ratte in den Anfang des 18, Jahrhunderts verlegt und seit dieser Zeit 
ist auch die Pest in Europa verschwunden. Möglicherweise besteht 
also zwischen beiden ein ursächlicher Zusammenhang. 
Der Zug der Wanderratte ist heute wohl in seiner letzten Phase 
angelangt, aber ein anderer steht noch im Beginne. Ich meine den 
des Ziesels. Über seinen Schaden für den Feldbau brauche ich vor 
* Reiner Müller, Athropoden als Krankheitsüberträger. In: Münch, 
Med, Wochenschrift 1910, Jahrg. 57, No, 46. 8. 2398 ff,
	        
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